25.03.2016

DIE PASSION - DIE VERSCHIEDENEN PROZESSE

nach Maria Valtorta

Es beginnt der schmerzvolle Weg auf dem steinigen Sträßchen, dass vom Platz der Gefangennahme Jesu zum Kedron führt und von dort auf einem weiteren Sträßchen zur Stadt. Und gleichzeitig beginnen Spott und Misshandlungen.

Jesus ist an den Händen gefesselt, und man hat ihm sogar einen Strick um den Leib gebunden, als wäre er ein gefährlicher Geisteskranker. Die Strickenden halten zwei haßerfüllte Rohlinge, die ihn hin- und herzerren, wie ein Rudel wütender Hunde einen alten Lappen. Aber wenn es Hunde wären, die sich so benehmen, könnte man sie noch entschuldigen. Diese hingegen nennen sich Menschen, obwohl sie von Menschen nur das Aussehen haben. Um ihm noch mehr wehzutun, haben sie sich eine Fesselung mit zwei entgegengesetzten Stricken ausgedacht. Mit einem sind nur die Handgelenke zusammengebunden, aber der sehr straffe, rauhe Strick kratzt und schneidet tief ins Fleisch ein. Der andere, um die Taille gebundene, preßt die Ellenbogen an den Körper und drückt auf die Magengegend, die Leber und das Kreuz, wo sich ein riesiger Knoten befindet. Von Zeit zu Zeit schlagen die Männer, die die Strickenden halten, damit auf ihn ein und schreien: «Hü! Hott! Lauf, Esel!» und geben dem Gequälten Fußtritte in die Kniekehlen, so dass er wankt und nur deshalb nicht fällt, weil die Stricke ihn auf den Füßen halten. Das hindert aber nicht, dass Jesus an Mäuerchen und Baumstämme stößt und dann durch einen noch kräftigeren Ruck hart gegen das Geländer der Brücke fällt, als er über den Kedron geht; denn der eine reißt ihn an dem Strick um die Handgelenke nach rechts, der andere an dem Strick um die Taille nach links. Sein verletzter Mund blutet. Jesus hebt die gefesselten Hände, um das Blut, dass in seinen Bart tropft, abzuwischen und sagt kein Wort. Er ist wahrhaft das Lamm, dass sich nicht gegen seine Peiniger auflehnt.

Inzwischen sind Leute zum Kedron hinuntergelaufen, um Kies und Steine im Bachbett zu holen, und nun hagelt es von unten Steine auf das leicht zutreffende Ziel. Denn auf dem schmalen, unsicheren Brückchen, auf dem sich die Leute stauen und sich gegenseitig behindern, geht es nur langsam voran, und die Steine treffen Jesus am Kopf, an den Schultern und am Rücken; und nicht nur Jesus. Seine Schergen reagieren darauf, indem sie nun selbst Stöcke und die gleichen Steine werfen. Alles dient nur dazu, dass Jesus noch häufiger an Kopf und Hals getroffen wird. Aber schließlich sind sie am Ende der Brücke, und nun wirft ein enges Gäßchen seine Schatten auf das Gewühl, denn der Mond beginnt unterzugehen und scheint nicht mehr in diesen krummen Durchgang. Auch sind viele Fackeln im allgemeinen Durcheinander erloschen.

Aber der Haß dient als Leuchte und läßt sie den armen Märtyrer erkennen, für den selbst seine hohe Gestalt zur Qual wird. Er ist der größte von allen. So ist es leicht, ihn zu schlagen, ihn an den Haaren zu packen und sein Haupt gewaltsam nach hinten zu reißen, um ihm eine Handvoll Kot ins Gesicht zu werfen, der ihn in Mund und Augen trifft und ihm gewiss Schmerz und Ekel bereitet.

Nun durchqueren sie den Vorort Ophel, den Vorort, in dem Jesus so viel Gutes getan und so viele Liebkosungen ausgeteilt hat. Der lärmende Haufe ruft Schläfer auf die Schwellen der Häuser, und wenngleich die Frauen schmerzerfüllt aufschreien und entsetzt fliehen, als sie sehen, was geschieht, so senken doch die Männer – die Männer, denen er ja auch Heilungen, Hilfe und Freundesworte geschenkt hat – gleichgültig die Köpfe, scheinen zumindest teilnahmslos, oder ihre Neugierde verwandelt sich in Haß, in Hohnlachen, in eine Drohung. Und viele schließen sich dem Zug an, um die Qualen noch zu vermehren. Satan ist schon am Werk...

Ein Mann, ein Ehemann, der ihm folgen will, um ihn zu beleidigen, wird von seiner schreienden Frau zurückgehalten, die ihm zuruft: «Du Feigling! Wenn du noch lebst, so hast du es nur ihm zu verdanken, du schmutziger, schlechter Kerl. Denk daran!» Doch der Mann überwältigt die Frau, schlägt wild auf sie ein, wirft sie zu Boden und läuft davon, um den Märtyrer einzuholen und ihm einen Stein an den Kopf zu werfen.

Eine andere alte Frau versucht, sich ihrem Sohn in den Weg zu stellen, der mit dem Gesicht einer Hyäne und einem Stock herbeieilt, um Jesus zu schlagen. Sie ruft ihm zu: «Solange ich lebe, wirst du nicht der Mörder deines Erlösers sein!» Doch ein brutaler Fußtritt des Sohnes trifft die Arme am Unterleib, und sie bricht schreiend zusammen: «Gottesmörder und Mörder deiner Mutter! Um des Leibes willen, den du zum zweitenmal zerreißt, und um des Messias willen, den du schlägst, sollst du verflucht sein!»

Die Szenen werden immer grausamer, je näher sie zur Stadt kommen.

Bevor sie die Stadtmauern erreichen – die Tore sind schon geöffnet, und die römischen Soldaten halten ihre Waffen bereit und beobachten den Verlauf des Tumults, und wohin er sich wendet, um sofort eingreifen zu können, falls das Ansehen Roms verletzt würde – erscheinen Johannes und Petrus. Ich nehme an, dass sie auf einer Abkürzung oberhalb der Brücke über den Kedron gelangt und der Menge vorausgeeilt sind, die nur sehr langsam vorankommt, da sie sich gegenseitig behindert. Sie befinden sich im Halbschatten eines Hausflures, an einem kleinen Platz vor der Mauer. Sie haben die Mäntel über den Kopf gezogen, um ihre Gesichter zu verbergen. Doch als Jesus dort ankommt, läßt Johannes seinen Mantel fallen und zeigt offen sein blasses, verstörtes Gesicht im Licht des Mondes, der hier noch scheint, bevor er jenseits der Mauer hinter dem Hügel, den ich die Schergen Tophet nennen höre, verschwindet. Petrus wagt es nicht, sein Gesicht zu zeigen, kommt aber etwas näher, um gesehen zu werden... Jesus schaut sie an... und lächelt ihnen unendlich gütig zu. Petrus dreht sich um, kehrt in seinen finsteren Winkel zurück und bedeckt die Augen mit den Händen – ein gebeugter, gealterter, gebrochener Mensch... Johannes bleibt mutig an seinem Platz, und erst, als die schreiende Menge vorbeigezogen ist, geht er zu Petrus, nimmt ihn am Ellbogen und führt ihn, wie ein Junge seinen blinden Vater, hinter dem lärmenden Volk in die Stadt.

Ich höre die erstaunten, spöttischen und bedauernden Ausrufe der römischen Soldaten. Einer von ihnen flucht, weil man ihn aus dem Bett geworfen hat wegen dieses «dummen Hammels». Ein anderer verspottet die Juden, die imstande sind, «ein halbes Weib gefangenzunehmen». Wieder ein anderer bemitleidet das Opfer, dass ihm «immer gut» erschienen war. Und einer sagt sogar: «Ich wäre lieber gestorben, als ihn in diesen Händen zu sehen. Er ist ein Großer. Meine Verehrung gilt zwei Dingen in der Welt: Ihm und Rom.»

«Beim Jupiter», ruft der Ranghöchste aus. «Ich will keine Unannehmlichkeiten. Ich gehe jetzt zum Offizier. Er soll benachrichtigen, wen es angeht. Ich will nicht abkommandiert werden und gegen die Germanen kämpfen. Diese Hebräer stinken zwar und sind Schlangen, die Scherereien machen. Aber man ist hier seines Lebens sicher. Meine Zeit geht bald zu Ende, und bei Pompeji wartet ein Mädchen auf mich ...»

Den Rest höre ich nicht, da ich Jesus folge, der weitergeht auf der Straße, die in einem Bogen zum Tempel hinaufführt. Aber ich sehe und verstehe, dass das Haus des Annas, in das sie ihn bringen wollen, zu dem Labyrinth des Tempels gehört, der den ganzen Berg Sion einnimmt, und doch auch wieder nicht. Denn es liegt an seinem äußersten Rand, in der Nähe einiger Mauern, die an dieser Stelle anscheinend die Stadtgrenze bilden und sich dann von dort mit Gewölben und Höfen den Berg hinauf bis zum eigentlichen Tempelbezirk hinziehen, in den sich die Israeliten zu ihren verschiedenen Kulthandlungen begeben. Ein hohes, eisenbeschlagenes Tor befindet sich in der Mauer. Dorthin eilen die eifrigen Hyänen und klopfen kräftig an. Kaum hat sich das Tor einen Spalt geöffnet, stürmen sie hinein, und beinahe werfen sie die alte Dienerin um und zertrampeln sie, die ihnen geöffnet hat. Sie reißen das Tor weit auf, damit die lärmende Menge mit dem Gefangenen in ihrer Mitte hereinkommen kann. Kaum sind sie drinnen, schließen und verriegeln sie das Tor wieder, vielleicht aus Furcht vor den Römern oder den Anhängern des Nazareners.

Vor seinen Anhängern? Wo sind sie denn? ...

Nun gehen sie durch die Vorhalle, dann über einen weiten Innenhof und durch einen Gang, eine weitere Säulenhalle und noch einen Hof. Danach schleppen sie Jesus drei Stufen hinauf und fast im Laufschritt durch eine etwas höher als der Hof gelegene Säulenhalle, um möglichst schnell zu einem prächtigen Saal zu gelangen, in dem schon ein alter Mann in Priestergewändern wartet.

«Gott tröste dich, Annas», sagt einer, der anscheinend der Offizier ist, wenn man den Halunken, der diese Räuberbande kommandiert, Offizier nennen kann. «Hier hast du den Schuldigen. Deiner Heiligkeit vertraue ich ihn an, damit Israel von der Sünde gereinigt wird.»

«Gott möge dich für deine Klugheit und deinen Glauben segnen.»

Schöne Klugheit! Die Stimme Jesu genügte, um ihn in Gethsemane zu Boden zu werfen.

«Wer bist du?»

«Jesus von Nazareth, der Rabbi, der Christus. Du kennst mich. Ich habe nicht in der Finsternis gewirkt.»

«In der Finsternis nicht. Aber du hast das Volk mit Lehren der Finsternis verwirrt. Und der Tempel hat das Recht und die Pflicht, für das Wohl der Seelen der Kinder Abrahams zu sorgen.»

«Die Seelen! Priester Israels, kannst du behaupten, dass du je für die Seele des Geringsten oder des Größten dieses Volkes gelitten hast?»

«Und du? Was hast du getan, was man Leiden nennen könnte?»

«Was ich getan habe? Warum fragst du mich? Ganz Israel spricht davon. Von der heiligen Stadt bis zum ärmsten Dorf reden auch die Steine von dem, was ich getan habe. Ich habe die Blinden sehend gemacht: sehend mit den Augen und mit dem Herzen. Ich habe die Ohren der Tauben geöffnet: für die Stimmen der Erde und die Worte des Himmels. Ich habe

die Lahmen und die Krüppel gehen gemacht, damit sie den Weg zu Gott beginnen, zuerst mit dem Leib und dann mit der Seele. Ich habe die Aussätzigen rein gemacht: von dem Aussatz, von dem das Gesetz des Moses spricht, und von dem, der in den Augen Gottes unrein macht, den Sünden. Ich habe die Toten erweckt. Ich nenne es nicht groß, dass Fleisch zum Leben wiederzuerwecken, sondern es ist groß, einen Sünder zu erlösen; und ich habe es getan. Ich habe den Armen geholfen und die geizigen und reichen Hebräer das heilige Gebot der Liebe zum Nächsten gelehrt. Ich bin arm geblieben trotz des Goldstromes, der durch meine Hände geflossen ist, und habe allein mehr Tränen getrocknet, als ihr alle zusammen, die ihr Reichtümer besitzt. Schließlich habe ich einen Reichtum geschenkt, der keinen Namen hat: die Kenntnis des Gesetzes, die Kenntnis Gottes, die gewissheit, dass wir alle gleich sind, und dass in den heiligen Augen des Vaters auch die Tränen oder die Verbrechen gleich sind, ob nun die des Tetrarchen oder des Hohenpriesters, oder die des Bettlers oder des Aussätzigen, der am Weg stirbt. Das habe ich getan. Sonst nichts.»

«Weißt du, dass du dich selbst beschuldigst? Du sagst: der Aussatz, der in den Augen Gottes unrein macht, und dieser wurde nicht von Moses genannt. Du beleidigst Moses und unterstellst, dass in seinem Gesetz Lücken sind...»

«Nicht sein, vielmehr Gottes Gesetz. Das ist es. Ich sage, schlimmer als der Aussatz, dass Verhängnis des Fleisches, dass einmal endet, ist die Sünde, dass Verhängnis der Seele, dass niemals endet.»

«Du wagst zu sagen, dass du Sünden vergeben kannst. Wie machst du das?»

«Wenn es erlaubt und glaubhaft ist, dass man durch ein wenig reinigendes Wasser und das Opfer eines Widders von seinen Sünden rein wird und sie tilgt und sühnt, wie sollten es dann meine Tränen, mein Blut und mein Wille nicht vermögen?»

«Aber du bist nicht tot. Wo ist also das Blut?»

«Noch bin ich nicht tot. Aber ich werde es sein, denn so steht es geschrieben. Im Himmel stand es schon geschrieben, als Sion noch nicht war, als Moses noch nicht war, noch Jakob und Abraham, seit der Biß des Fürsten des Bösen das Herz des Menschen und seiner Nachkommen vergiftet hat. Auf Erden steht es geschrieben in dem Buch, dass die Stimmen der Propheten enthält. Es steht geschrieben in den Herzen. In deinem, in dem des Kaiphas und der Synedristen, die mir nicht verzeihen, nein, diese Herzen verzeihen mir nicht, dass ich gut bin. Ich habe schon losgesprochen, bevor Blut geflossen ist. Nun vollende ich die Lossprechung durch die Waschung im Blut.»

«Du nennst uns habgierig und des Gebotes der Liebe unkundig ...»

«Ist dem etwa nicht so? Warum tötet ihr mich? Weil ihr fürchtet, ich könnte euch entthronen. Oh, fürchtet nicht. Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Ich lasse euch die Herrschaft und alle Gewalt. Der Ewige weiß, wann er das „genug“ sagen und euch mit seinem Blitz zerschmettern wird...»

«Wie Doras, nicht wahr?»

«Er starb an seinem Zorn. Nicht durch den Blitz des Himmels. Gott hat ihn im Jenseits erwartet, um ihn zu zerschmettern.»

«Und das sagst du mir, seinem Verwandten? Du wagst es?»

«Ich bin die Wahrheit. Die Wahrheit ist niemals feige.»

«Du Hochmütiger und Irrsinniger!»

«Nein: Aufrichtiger. Du beschuldigst mich, euch zu beleidigen. Aber haßt ihr denn nicht alle? Einer haßt den anderen. Nun vereint euch der Haß gegen mich. Aber morgen, wenn ihr mich getötet habt, wird der Haß noch unbarmherziger zu euch zurückkehren, und ihr werdet verfolgt von dieser Hyäne und mit dieser Schlange im Herzen leben. Ich habe die Liebe gelehrt, aus Mitleid mit der Welt. Ich habe gelehrt, nicht habgierig zu sein und Barmherzigkeit zu üben. Wessen beschuldigst du mich?»

«Daß du eine neue Lehre eingeführt hast.»

«0 Priester! In Israel wimmelt es von neuen Lehren. Die Essener haben die ihre, die Zadokiter die ihre, die Pharisäer die ihre, alle haben sie ihre geheime Lehre; für den einen ist es die Lust, für den anderen das Gold, für den dritten die Macht, und jeder hat seinen Götzen. Ich nicht. Ich habe das mit Füßen getretene Gesetz meines Vaters, des ewigen Gottes, erneut aufgegriffen und habe einfach wieder die Zehn Gebote des Dekalogs gepredigt. Ich habe mir keine Ruhe gegönnt, um sie in den Herzen zu verankern, die sie nicht mehr kannten.»

«Furchtbar! Gotteslästerung! Mir, dem Priester, sagst du das? Hat denn Israel keinen Tempel? Sind wir die von Babylon Heimgesuchten? Antworte.»

«Das seid ihr. Und noch schlimmer. Es gibt einen Tempel, ja. Ein Gebäude. Aber Gott ist nicht mehr darin. Er ist geflohen vor dem Greuel in seinem Haus. Aber warum fragst du mich so vieles, da doch mein Tod beschlossen ist?»

«Wir sind keine Mörder. Wir töten nur, wenn wir aufgrund erwiesener Schuld ein Recht dazu haben. Aber ich will dich retten. Antworte mir, und ich werde dich retten. Wo sind deine Jünger? Wenn du sie mir auslieferst, lasse ich dich frei. Ich will die Namen aller, und mehr noch die der geheimen als die der bekannten. Sage, gehört Nikodemus zu dir? Gehört Joseph von Arimathäa zu dir? Und Gamaliel? Und Eleazar? Und... Nun, von diesem weiß ich es... Es ist nicht nötig. Also sprich, sprich. Du weißt es, ich kann töten oder retten. Ich bin mächtig.»

«Du bist Schlamm. Ich lasse dem Schlamm das Handwerk des Spions. Ich bin das Licht.»

Ein Henkersknecht versetzt ihm einen Faustschlag.

«Ich bin das Licht. Das Licht und die Wahrheit. Ich habe offen zur Welt gesprochen. Ich habe in den Synagogen und im Tempel gelehrt, wo sich die Juden versammeln, und ich habe nichts im Verborgenen gesagt. Ich wiederhole es. Warum fragst du mich? Frage die, die gehört haben, was ich geredet habe. Sie wissen es.»

Ein anderer Scherge gibt ihm einen Backenstreich und schreit: «Antwortest du so dem Hohenpriester?»

«Ich rede mit Annas. Der Hohepriester ist Kaiphas. Ich spreche mit dem gebührenden Respekt zu dem Greis. Wenn du glaubst, dass ich ungehörig gesprochen habe, beweise es mir. Wenn nicht, warum schlägst du mich?»

«Laß ihn in Ruhe. Ich gehe zu Kaiphas. Ihr behaltet ihn hier, bis ich weiteres befehle. Und sorgt dafür, dass er mit niemandem spricht.» Annas geht hinaus.

Nein, Jesus spricht nicht. Nicht einmal mit Johannes, der sich trotz des Häschergesindels bis zur Tür gewagt hat. Aber Jesus muss Johannes ohne Worte einen Befehl gegeben haben, denn dieser geht nach einem letzten traurigen Blick fort, und ich verliere ihn aus den Augen.

Jesus bleibt mit seinen Peinigern allein, die ihn mit Stricken schlagen, ihn anspeien, ihn verhöhnen, ihm Fußtritte geben und ihn an den Haaren ziehen. Das ist, was ihm bleibt, bis ein Diener mit dem Befehl kommt, den Gefangenen in das Haus des Kaiphas zu bringen.

Jesus wird, immer noch gebunden, unter Mißhandlungen wieder in die Säulenhalle gezerrt. Er durchquert sie und gelangt in einen Gang und dann durch einen Hof, in dem sich viele Leute an einem Feuer wärmen, denn die Nacht ist windig und kalt geworden in diesen ersten Stunden des Freitags. Auch Johannes und Petrus befinden sich in der feindseligen Menge. Sie müssen schon recht mutig sein, um dort zu bleiben... Jesus schaut sie an, und die Spur eines Lächelns zeigt sich um seinen von den erhaltenen Schlägen schon geschwollenen Mund.

Es folgt ein langer Weg durch Hallen, Höfe und Gänge. Was für Häuser hatten diese Leute vom Tempel!

Zum Bereich des Hohenpriesters hat das Volk keinen Zutritt. Es wird in das Atrium des Annas zurückgedrängt. Jesus geht allein weiter zwischen Henkersknechten und Priestern. Er betritt einen großen Saal, der seine rechteckige Form zu verlieren scheint durch die vielen Bänke auf Eisenböcken, die an drei Seiten aufgestellt sind und in der Mitte einen freien Raum lassen. Gegenüber stehen zwei oder drei erhöhte Sitze auf Podien.

Als Jesus gerade den Saal betreten will, erscheint der Rabbi Gamaliel neben ihm, und die Wachen geben dem Gefangenen einen Stoß, damit er dem Rabbi von Israel den Vortritt läßt. Doch dieser, steif wie eine Statue und hieratisch, verlangsamt seinen Schritt und fragt, wobei er kaum die Lippen bewegt und niemanden anschaut: «Wer bist du? Sage es mir.»

Jesus antwortet sanft: «Lies die Propheten, und du wirst die Antwort finden. Das erste Zeichen ist in ihren Schriften enthalten. Das andere wird folgen.»

Gamaliel rafft seinen Mantel und geht hinein. Hinter ihm betritt Jesus den Saal. Während Gamaliel zu einer Bank geht, wird Jesus in die Mitte des Saales geschleppt vor den Hohenpriester: ein wahres, wirkliches Verbrechergesicht. Man wartet noch, bis alle Mitglieder des Synedriums versammelt sind. Dann wird die Sitzung eröffnet. Doch Kaiphas sieht zwei oder drei leere Plätze und fragt: «Wo ist Eleazar? Wo ist Johannes?»

Ein junger Schriftgelehrter – glaube ich – steht auf, verneigt sich und sagt: «Sie weigern sich zu kommen. Hier ist das Schreiben.»

«Man bewahre das Schreiben auf. Sie werden Rechenschaft darüber ablegen müssen. Was haben die heiligen Mitglieder dieses Rates über diesen hier zu sagen?»

«Ich spreche. Er hat in meinem Haus den Sabbat geschändet. Gott ist mein Zeuge, ob ich lüge. Ismael ben Fabi lügt niemals.»

«Ist es wahr, Angeklagter?»

Jesus schweigt.

«Ich habe ihn mit bekannten Dirnen zusammenleben gesehen. Er gab sich als Prophet aus und hat aus seinem Schlupfwinkel ein Bordell gemacht, und dazu noch mit heidnischen Frauen. Mit mir zusammen waren Sadok, Callascebona und Nahum, der Vertrauensmann des Annas. Sage ich die Wahrheit, Sadok und Callascebona? Widersprecht mir, wenn ich es verdiene.»

«Es ist wahr! Es ist wahr!»

«Was sagst du dazu?»

Jesus schweigt.

«Er hat keine Gelegenheit ausgelassen, uns zu verspotten und uns zum Gespött des Volkes zu machen. Das Volk liebt uns seinetwegen nicht mehr.»

«Hörst du? Du hast die heiligen Mitglieder des Synedriums entehrt.»

Jesus schweigt.

«Dieser Mensch ist besessen. Aus Ägypten zurückgekehrt, betreibt er schwarze Magie.»

«Wie kannst du das beweisen?»

«Ich schwöre es auf meinen Glauben und die Gesetzestafeln.»

«Eine schwerwiegende Anschuldigung. Verteidige dich.»

Jesus schweigt.

«Gesetzwidrig ist das Amt, dass du dir angemaßt hast, du weißt es. Darauf steht der Tod. Sprich!»

«Gesetzwidrig ist diese unsere Sitzung. Steh auf, Simeon, wir gehen», sagt Gamaliel.

«Aber Rabbi, hast du den Verstand verloren?»

«Ich halte mich an die Regeln. Es ist nicht erlaubt, so vorzugehen, wie wir es tun. Ich werde öffentliche Anklage erheben.» Und der Rabbi Gamaliel geht steif wie eine Statue hinaus, gefolgt von einem etwa fünfunddreißigjährigen Mann, der ihm sehr ähnlich sieht.

Es entsteht ein kleiner Tumult, den Nikodemus und Joseph benutzen, um zugunsten des Märtyrers zu sprechen.

«Gamaliel hat recht. Gesetzwidrig ist die Stunde und der Ort, und die Anklagen sind nicht stichhaltig. Kann ihn jemand einer allgemein bekannten Mißachtung des Gesetzes bezichtigen? Ich bin sein Freund, und ich schwöre, dass ich ihn immer das Gesetz achten gesehen habe», sagt Nikodemus.

«Und auch ich. Um nicht an einem Verbrechen teilzunehmen, bedecke ich mein Haupt, nicht seinetwegen, sondern unseretwegen, und gehe.» Joseph schickt sich an, von seinem Sitz herabzusteigen und hinauszugehen.

Aber Kaiphas keift: «Ach, so meint ihr! Laßt die geschworenen Zeugen herein. Hört sie euch an, dann könnt ihr gehen.»

Zwei Sträflingsgesichter kommen herein. Ausweichende Blicke, grausames Grinsen, arglistiges Gebaren...

«Redet.»

«Es ist nicht erlaubt, sie zusammen zu verhören», ruft Joseph.

«Ich bin der Hohepriester. Ich gebiete hier. Ruhe!»

Joseph schlägt mit der Faust auf einen Tisch und sagt: «Das Feuer des Himmels falle herab auf dich! Wisse, dass der Ratsherr Joseph von nun an ein Feind des Synedriums und ein Freund des Christus ist. Und daher gehe ich jetzt zum Prätor und melde ihm, dass hier ohne Rücksicht auf die römischen Gesetze getötet wird.» Er geht zornig hinaus und versetzt dabei einem mageren, jungen Schriftgelehrten, der ihn zurückhalten will, einen Stoß.

Der ruhigere Nikodemus verläßt schweigend den Saal. Im Hinausgehen kommt er an Jesus vorüber und sieht ihn an...

Ein neuer Tumult. Man fürchtet Rom. Jesus ist wiederum der Sündenbock.

«Deinetwegen, du siehst es, geschieht all dies. Du Verderber der besten Juden! Du hast sie verführt.»

Jesus schweigt.

«Die Zeugen sollen reden», schreit Kaiphas.

«Ja, er hat das... das... benützt. Wir wußten es... Wie heißt es doch gleich?»

«Vielleicht das Tetragrammaton?»

«Das ist es! Er hat die Toten beschworen. Er hat gelehrt, dass man sich gegen das Sabbatgebot auflehnen und die Altäre schänden soll. Wir schwören es. Er hat gesagt, dass er den Tempel niederreißen und mit Hilfe der Dämonen in drei Tagen wieder aufbauen wird.»

«Nein. Er hat gesagt: „Es wird nicht Menschenwerk sein.“»

Kaiphas steigt von seinem Sitz herab und kommt zu Jesus. Er ist klein, dick und häßlich und gleicht einer riesigen Kröte neben einer Blume. Denn Jesus, obgleich verletzt, zerschlagen, schmutzig und mit wirrem Haar, ist immer noch so schön und majestätisch.

«Du antwortest nicht? Hörst du, welche Anklagen sie gegen dich erheben? Furchtbare Anklagen! Sprich, um dich von dieser Schmach zu reinigen!»

Aber Jesus schweigt. Er sieht ihn an und schweigt.

«Antworte wenigstens mir. Ich bin dein Hoherpriester. Im Namen des lebendigen Gottes beschwöre ich dich. Sage mir: Bist du der Messias, der Sohn Gottes?»

«Du sagst es. Ich bin es. Ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Kraft des Vaters sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen. Aber weshalb fragst du mich? Drei Jahre habe ich öffentlich gesprochen. Ich habe nichts im verborgenen gesagt. Frage die, die mich gehört haben. Sie werden dir sagen, was ich gesagt und getan habe.»

Einer der Soldaten, die Jesus halten, schlägt ihn auf den Mund, so dass dieser wieder zu bluten beginnt, und schreit: «So antwortest du, o Satan, dem Hohenpriester?»

Und Jesus entgegnet diesem wie dem vorigen sanft: «Wenn ich recht geredet habe, warum schlägst du mich? Wenn ich unrecht geredet habe, warum sagst du mir nicht, worin ich gefehlt habe? Ich wiederhole: Ich bin der Christus, der Sohn Gottes. Ich kann nicht lügen. Der Hohepriester, der Ewige Priester, bin ich. Ich allein trage das wahre Brustschild, auf dem geschrieben steht: Lehre und Wahrheit. Diesen bin ich treu. Bis zum Tod, dem schändlichen Tod in den Augen der Welt, dem heiligen Tod in den Augen Gottes, bis zur seligen Auferstehung. Ich bin der Gesalbte. Der Hohepriester und König bin ich. Ich bin im Begriff, mein Szepter zu ergreifen und damit, wie mit einer Wurfschaufel, die Tenne zu reinigen. Dieser Tempel wird zerstört werden und neu und heilig wiedererstehen. Denn dieser hier ist verdorben, und Gott überläßt ihn seinem Schicksal.»

«Du Gotteslästerer!» schreien alle im Chor.

«In drei Tagen willst du ihn wieder aufbauen, du Verrückter, Besessener?»

«Nicht dieser, sondern meiner wird errichtet werden, der Tempel des wahren Gottes, des lebendigen und dreimal heiligen Gottes.»

«Anathema!» schreien sie wieder im Chor.

Kaiphas erhebt seine heisere Stimme, zerreißt seine linnenen Gewänder in einer einstudierten Geste des Entsetzens und sagt: «Was brauchen wir noch Zeugen? Die Gotteslästerung ist ausgesprochen. Was tun wir nun?»

Und alle im Chor: «Er ist des Todes schuldig!»

Mit Gesten des Abscheus und der Entrüstung verlassen sie den Saal und überlassen Jesus der Gnade seiner Schergen und dem Spott der falschen Zeugen, dieses Pöbels, der ihm Backenstreiche gibt, ihn mit Fäusten schlägt, ihn anspeit, ihm mit einem Lappen die Augen verbindet und ihn heftig an den Haaren reißt. Sie stoßen ihn mit seinen gefesselten Händen hierhin und dorthin, so dass er an Tische, Kästen und Wände stößt, und dabei fragen sie ihn: «Wer hat dich geschlagen? Rate?» Mehrere Male stellen sie ihm ein Bein, so dass er der Länge nach zu Boden aufs Gesicht fällt, und dann lachen sie unmäßig, wenn sie sehen, wie er sich mit gebundenen Händen bemüht, wieder aufzustehen.

So vergehen die Stunden, und die ermüdeten Henkersknechte beschließen endlich, sich etwas auszuruhen. Sie bringen Jesus in einen kleinen Nebenraum, wozu sie ihn viele Höfe durchqueren lassen und ihn dem Spott der im Bereich der priesterlichen Häuser schon zahlreichen Menge aussetzen. Jesus kommt nun in den Hof, in dem Petrus an einem Feuer steht. Er sieht ihn an, aber Petrus weicht seinem Blick aus. Johannes ist nicht mehr da. Ich sehe ihn jedenfalls nicht. Vielleicht ist er mit Nikodemus fortgegangen...

Eine grünliche Morgendämmerung bricht langsam an. Ein Befehl wird gegeben: Der Gefangene soll in den Saal des Rates zurückgeführt werden und einen ordnungsgemäßen Prozeß erhalten. Gerade da leugnet Petrus zum dritten Mal, Christus zu kennen, als dieser, schon von der Qual gezeichnet, vorüberkommt. In dem fahlen Licht der Dämmerung erscheinen die blauen Flecken auf dem totenblassen Antlitz noch viel furchtbarer, die Augen noch tiefliegender und glasiger. Ein von allem Schmerz der Welt gezeichneter Jesus... Das spöttische, sarkastische, höhnische Krähen eines Hahnes ertönt durch die kaum bewegte Luft des Morgens. Und in dem Augenblick großer Stille, die dem Erscheinen Jesu folgt, hört man nur die rauhe Stimme des Petrus sagen: «Ich schwöre es, Frau. Ich kenne ihn nicht.» Eine sichere, entschiedene Behauptung, auf die wie ein nachäffendes Gelächter sofort das unverschämte Kikeriki des Hahnes antwortet.

Petrus schrickt zusammen. Er dreht sich um, um zu fliehen, und findet sich Jesus gegenüber, der ihn mit unendlichem Erbarmen ansieht, mit einem so traurigen und tiefen Schmerz, dass es mir das Herz zerreißt; so als ob mir mein Jesus nach diesem Vorfall für immer entschwinden würde. Petrus weint laut auf und geht schwankend wie ein Betrunkener fort. Hinter zwei Dienern, die auf die Straße hinausgehen, flieht er und verschwindet auf der noch halbdunklen Straße.

Jesus wird in den Saal zurückgebracht. Sie wiederholen ihm noch einmal im Chor die verfängliche Frage: «Im Namen des wahren Gottes, sage uns: Bist du der Messias?» Nachdem sie dieselbe Antwort wie zuvor erhalten haben, verurteilen sie ihn zum Tod und geben den Befehl, ihn zu Pilatus zu bringen.

Jesus geht hinaus in Begleitung aller seiner Feinde, mit Ausnahme des Annas und des Kaiphas, und durchquert noch einmal alle die Höfe des Tempels, in denen er so oft geredet, Wohltaten gespendet und geheilt hat. Er läßt die zinnengekrönte Außenmauer hinter sich und steigt, mehr geschleppt als geführt, durch die Straßen in die Stadt hinunter, die die sich ankündigende Morgenröte mit einem rosaroten Schimmer übergießt.

Ich glaube, dass sie Jesus, nur um ihn länger zu quälen, einen langen, mühsamen Weg durch Jerusalem machen lassen und absichtlich an den Märkten, Stallungen und Herbergen vorbeigehen, die wegen des Passahfestes überfüllt sind. Sowohl das weggeworfene Gemüse auf den Märkten, als auch der Kot der Tiere in den Stallungen wird zu Wurfgeschossen, so dass das Antlitz des Unschuldigen immer mehr blaue Flecken und kleine blutende Verletzungen aufweist und von all dem Schmutz bedeckt ist, den man auf ihn wirft. Sein Haar hängt schwer und glatter als sonst, naß von Schweiß und Blut, wirr und voll Stroh und Schmutz, über seine Augen, denn sie zerzausen es, um sein Gesicht zu bedecken.

Die Leute auf den Märkten, Händler wie Käufer, lassen alles im Stich, um dem Unglücklichen zu folgen, allerdings nicht aus Liebe. Die Stallburschen und Herbergsdiener kommen in Scharen herbeigelaufen und sind taub für alle Rufe und Befehle ihrer Herrinnen. Denn diese, um die Wahrheit zu sagen, sind, wie fast alle anderen Frauen, entweder mit den Beleidigungen nicht einverstanden oder zumindest gleichgültig dem Tumult gegenüber und ziehen sich murrend zurück, da sie sich nun allein um so viele Gäste kümmern müssen.

Der schreiende Schwarm wächst von Minute zu Minute, und es scheint, dass eine plötzlich aufgetretene Seuche die Herzen und die Gesichter verwandelt. Die ersteren werden zu Verbrecherherzen, die zweiten zu Masken rasender Wut auf den Gesichtern, die grün vor Haß und rot vor Zorn sind. Die Hände werden zu Krallen, die Münder zu heulenden Wolfsmäulern, die blutunterlaufenen, schielenden Augen bekommen den irren Blick von Verrückten. Nur Jesus ist immer der gleiche, obwohl er nun von oben bis unten voll Schmutz und voll blauer Flecken und Schwellungen ist.

Bei einem Gewölbe, dass die Straße wie ein Ring verengt, staut und verlangsamt sich alles und ein Schrei durchdringt die Luft: «Jesus!» Es ist Elias, der Hirte, der, einen schweren Stock schwingend, versucht, sich einen Weg zu bahnen. Dem kräftigen, starken und drohenden Alten gelingt es, fast bis zum Meister durchzukommen. Aber das von dem unerwarteten Angriff überraschte Volk drängt sich nun wieder zusammen und trennt sie, schiebt ihn fort, und er geht als einzelner in der Masse unter.

«Meister!» schreit er, während der Strudel der Menge ihn fortreißt und schiebt.

«Geh! ... Die Mutter... Ich segne dich...»

Der Zug hat nun die schmale Stelle hinter sich. Und wie das Wasser sich nach einer Talenge wieder in sein breites Bett ergießt, so strömt er nun im Tumult in eine große, etwas erhöht liegende Straße über einer Niederung zwischen zwei Hügeln, an deren Ende sich die herrlichen Paläste großer Herren befinden.

Ich sehe wieder den Tempel auf der Höhe seines Hügels und verstehe, dass der nutzlose Umweg, den der Verurteilte machen musste, um ihn vor der ganzen Stadt an den Pranger zu stellen und es allen zu ermöglichen, ihn zu beleidigen – wobei die Beleidiger bei jedem Schritt mehr wurden – nun bald zu Ende geht und wieder zum Ausgangspunkt zurückführt.

Aus einem der Paläste kommt im Galopp ein Reiter. Die Purpurschabracke seines edlen arabischen Pferdes, sein beeindruckendes Äußere und das gezückte Schwert, dessen Schneide und Breitseite er auf blutende Rücken und Köpfe sausen läßt, lassen ihn wie einen Erzengel erscheinen. Als das Pferd tänzelt, steigt und sich aufbäumt, seine Hufe zur Verteidigung seiner selbst und seines Herrn gebraucht – das beste Mittel, um die Menge auseinanderzutreiben und sich einen Weg zu bahnen – fällt der golddurchwirkte und von einem Goldreif gehaltene Purpurschleier des Reiters, und ich erkenne Manaen.

«Zurück!» schreit er. «Was erlaubt ihr euch, die Ruhe des Tetrarchen zu stören?» Aber das ist nur ein Vorwand, um sein Eingreifen zu rechtfertigen und zu Jesus durchzukommen. «Dieser Mensch... Laßt mich ihn sehen... Halt, oder ich rufe die Wachen ...»

Das Volk teilt sich in Anbetracht der Schwertstreiche, Hufschläge und Drohungen des Reiters, und Manaen erreicht Jesus und die Tempelwächter, die ihn festhalten.

«Fort mit euch! Der Tetrarch ist mehr als ihr, ihr feigen Knechte. Zurück! Ich will mit ihm sprechen.» Und er hat Erfolg, nachdem er mit seinem Schwert den verbissensten der Schergen angegriffen hat.

«Meister...!»

«Danke. Doch geh! Gott tröste dich!» Jesus segnet ihn so gut er kann mit den gebundenen Händen.

Die Menge pfeift von weitem, und kaum sieht sie, dass Manaen sich zurückzieht, rächt sie sich durch einen Hagel von Steinen und Schmutz auf den Verurteilten dafür, dass man sie verjagt hat...

Auf der ansteigenden, schon von der Sonne erwärmten Straße geht es nun zum Turm der Antonia hinauf, dessen gewaltige Mauern man bereits in der Ferne sieht.

Der schrille Schrei einer Frau: «Oh, mein Erlöser! Mein Leben für sein Leben, o Ewiger!» durchdringt die Luft.

Jesus wendet das Haupt und sieht auf der blumengeschmückten Loggia eines sehr schönen Hauses Johanna des Chuza mit Knechten und Mägden und den Kindern Maria und Matthias an ihrer Seite, die die Arme zum Himmel erhebt.

Aber der Himmel erhört heute keine Gebete! Jesus hebt die Hände in einer Geste des Segens und des Grußes.

«Tod! Tod dem Gotteslästerer, dem Verderber, dem Dämon. Tod seinen Freunden!» Pfiffe ertönen, und Steine fliegen auf die hohe Terrasse. Ich weiß nicht, ob jemand verletzt ist. Ich höre nur einen durchdringenden Schrei und sehe dann, wie sich die Gruppe auflöst und verschwindet.

Weiter, immer weiter hinauf... Jerusalem zeigt seine leeren, in der Sonne liegenden Häuser. Geleert von einem Haß, der eine ganze Stadt mit ihren Bewohnern und den zum Passahfest gekommenen Fremden gegen einen Wehrlosen hetzt.

Römische Soldaten, ein ganzer Manipel, kommen im Laufschritt mit eingelegten Lanzen aus der Antonia, und der Pöbel zerstreut sich schreiend. Auf der Straße bleiben nur Jesus und die Wächter und die Oberhäupter der Priester, Schriftgelehrten und Ältesten des Volkes.

«Dieser Mann? Dieser Aufruhr? Dafür werdet ihr euch vor Rom verantworten», sagt ein Centurio hochmütig.

«Nach unserem Gesetz ist er des Todes schuldig.»

«Und seit wann ist euch das jus gladii et sanguinis 1) wiedergegeben?» fragt der älteste der Centurionen – ein strenges, echt römisches Gesicht mit einer tiefen Narbe auf der Wange. Und er spricht mit so viel Abscheu und Verachtung, wie er etwa zu verlausten Galeerensträflingen sprechen würde.

«Wir wissen, dass wir dieses Recht nicht haben. Wir sind getreue Untertanen Roms ...»

«Ha, ha, ha! Hörst du sie, Longinus? Getreu! Untertanen! Aas seid ihr. Die Pfeile meiner Bogenschützen möchte ich euch zur Belohnung geben.»

«Viel zu vornehm, ein solcher Tod! Die Rücken der Maulesel brauchen nur die Peitsche!» entgegnet mit ironischer Lässigkeit Longinus.

Die Oberhäupter der Priester, Schriftgelehrten und Ältesten schäumen vor Zorn. Aber sie wollen ihr Ziel erreichen und schweigen, schlucken die Beleidigung hinunter, lassen sich nicht anmerken, dass sie sie verstanden haben, verneigen sich vor den beiden Centurionen und bitten, Jesus vor Pontius Pilatus zu bringen, damit er ihn «richte und verurteile mit der wohlbekannten und angemessenen Gerechtigkeit Roms».

«Ha, ha, ha! Höre sie dir nur an. Wir sind weiser als Minerva geworden... Hier! Gebt ihn her und geht voraus. Man kann nie wissen. Ihr seid stinkende Schakale. Euch im Rücken zu haben ist gefährlich. Vorwärts.»

«Wir können nicht.»

«Und warum? Wenn einer anklagt, muss er zusammen mit dem Angeklagten vor dem Richter erscheinen. Das ist die römische Vorschrift.»

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1) Das Recht des Schwertes und des Blutes.

«Das Haus eines Heiden ist unrein in unseren Augen, und wir haben uns schon für das Passahfest gereinigt.»

«Oh, die Ärmsten! Sie verunreinigen sich, wenn sie hereinkommen... Und die Tötung des einzigen Hebräers, der ein Mensch ist und kein Schakal und Reptil wie ihr, die beschmutzt euch nicht? Nun gut. Dann bleibt also, wo ihr seid. Keinen Schritt weiter, sonst werdet ihr auf die Lanzen gespießt. Eine Decurie um den Angeklagten. Die anderen gegen dieses stinkende Pack mit seinen ungewaschenen Mäulern.»

Jesus betritt inmitten der zehn Bewaffneten das Prätorium. Die Soldaten bilden mit ihren Hellebarden ein Quadrat um ihn. Die beiden Centurionen gehen weiter. Während Jesus in einem weiten Atrium wartet, durch das man in einen Hof gelangt, der hinter einem im Wind wehenden Vorhang zu sehen ist, verschwinden sie durch eine Tür. Sie kommen wieder mit dem Statthalter, der in eine schneeweiße Toga und einen Purpurmantel gekleidet ist. Vielleicht war das die Amtstracht, wenn man Rom offiziell vertreten musste.

Er kommt nachlässig herein, mit einem skeptischen Lächeln auf dem bartlosen Gesicht, zerreibt etwas Zitronenkraut zwischen den Fingern und riecht genüßlich daran. Dann geht er zu einer Sonnenuhr, dreht sich um, nachdem er die Zeit gesehen hat, und wirft Weihrauchkörner in das Kohlebecken zu Füßen einer Gottheit. Er läßt sich Zitronenwasser bringen, gurgelt damit, betrachtet noch einmal seine schön gewellte Frisur in einem glänzenden Metallspiegel. Es scheint, als habe er den Verurteilten vergessen, der seine Zustimmung erwartet, um getötet zu werden. Selbst der Allergleichgültigste könnte zornig werden.

Das Atrium ist an der Vorderseite ganz offen und liegt noch um drei große Stufen höher als die Vorhalle, von der wiederum drei Stufen zur Straße hinunterführen. Daher können die Hebräer alles beobachten und toben innerlich. Aber sie wagen nicht aufzubegehren aus Furcht vor den Speeren.

Endlich, nachdem er in dem weiten Atrium wieder und wieder hierhin und dorthin gegangen ist, kommt Pilatus auf Jesus zu, sieht ihn an und fragt die beiden Centurionen: «Dieser?»

«Ja, dieser.»

«Seine Ankläger sollen vortreten», und er geht und setzt sich auf den Stuhl, den man auf ein Podest gestellt hat. Über seinem Haupt befinden sich die Insignien Roms mit ihren goldenen Adlern und der Inschrift seiner Macht. 1)

«Sie können nicht kommen. Sie verunreinigen sich.»

«Ach so?! Um so besser. Dann ersparen wir uns Ströme von Essenzen, um ihren Bocksgestank von hier wieder zu vertreiben. Sie sollen wenigstens

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1) SPQR – S(enatus) P(opulus) Q(ue) R(omanus) = Senat und Volk von Rom.

näherkommen. Bis hier unten. Und sorgt dafür, dass sie nicht hereinkommen, nachdem sie es schon nicht wollen. Dieser Mann hier könnte ein Vorwand für einen Aufstand sein.»

Ein Soldat geht, um den Befehl des römischen Prokurators zu überbringen. Die anderen stellen sich in regelmäßigen Abständen vor das Atrium. Sie sind schön wie neun Heroenstatuen anzusehen.

Die Obersten der Priester, Schriftgelehrten und Ältesten treten näher, grüßen mit kriecherischen Verbeugungen und bleiben auf dem Platz vor dem Prätorium unterhalb der drei Stufen der Vorhalle stehen.

«Redet und faßt euch kurz. Ihr seid schon schuldig, weil ihr die Nachtruhe gestört und mit Gewalt die Öffnung der Tore erzwungen habt. Ich werde die Sache überprüfen lassen, und sowohl die Auftraggeber als auch die Ausführenden werden sich wegen ihres Ungehorsams gegen die Vorschrift verantworten müssen.»

«Wir kommen, um Rom, dessen göttlichen Kaiser du hier vertrittst, unser Urteil über diesen hier zu unterbreiten.»

«Welche Anklage bringt ihr gegen ihn vor? Er scheint mir harmlos zu sein.»

«Wenn er kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht gebracht.» In ihrer Begierde anzuklagen, treten sie näher.

«Jagt dieses Gesindel zurück! Sechs Schritte hinter die drei Stufen zum Platz. Die beiden Centurien an die Waffen!»

Die Soldaten gehorchen sofort. Hundert stellen sich auf die oberste der drei äußeren Stufen mit dem Rücken zur Vorhalle und weitere hundert auf den kleinen Platz vor dem Eingangstor zum Palast des Pilatus. Ich habe gesagt: Eingangstor, doch ich müßte eigentlich sagen: Portal oder Triumphbogen, denn es ist eine riesige Öffnung mit einem nun weit offenen Gitter, von dem aus man durch die mindestens sechs Meter breite Vorhalle in das Atrium gelangt. Man sieht also sehr gut, was in dem höher liegenden Atrium geschieht. Von der anderen Seite der großen Vorhalle schauen die grausamen Gesichter der Juden teuflisch drohend herein. Sie schauen durch den bewaffneten Wall der wie bei einer Parade dicht nebeneinanderstehenden Soldaten, die zweihundert Speerspitzen auf die mörderischen und zugleich feigen Hasen richten.

«Welche Anklage bringt ihr gegen diesen hier vor, frage ich nochmals.»

«Er hat ein Verbrechen gegen das Gesetz unserer Väter begangen.»

«Und deshalb kommt ihr und belästigt mich? Nehmt ihn und verurteilt ihn nach euren Gesetzen.»

«Wir dürfen niemanden zum Tod verurteilen. Wir sind nicht gelehrt. Das hebräische Recht ist ein zurückgebliebenes Kind im Vergleich zum vollkommenen römischen Recht. Als Unwissende und Untertanen der Meisterin Rom brauchen wir ...»

«Seit wann seid ihr Honig und Butter? ... Aber ihr habt eine Wahrheit gesagt, ihr Meister der Verstellung! Ihr braucht Rom! Ja. Um den loszuwerden, der euch lästig ist. Ich habe verstanden.» Pilatus lacht und betrachtet den heiteren Himmel, eine rechteckige Platte aus dunklem Türkis, die die weißen Marmorwände des Atriums umrahmen.

«Sagt, worin hat er gegen eure Gesetze verstoßen?»

«Wir haben festgestellt, dass dieser hier Unordnung in unserem Volk hervorruft und es hindert, den Tribut an den Caesar zu entrichten, indem er sich als Messias und König der Juden ausgibt.»

Pilatus geht wieder zu Jesus, den die Soldaten zwar gefesselt, aber sonst unbewacht in der Mitte des Atriums gelassen haben, denn seine Sanftmut ist offensichtlich. Er fragt: «Bist du der König der Juden?»

«Fragst du dies aus dir selbst, oder haben es dir andere gesagt?»

«Meinst du, mich würde dein Reich interessieren? Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und seine Häupter haben dich mir überliefert, damit ich dich richte. Was hast du getan? Ich kenne dich als rechtschaffenen Menschen. Sprich. Ist es wahr, dass du die Herrschaft anstrebst?»

«Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre es von dieser Welt, so hätten meine Diener und Soldaten gekämpft, und die Juden hätten mich nicht gefangengenommen. Aber mein Reich ist nicht von dieser Welt. Und du weißt, dass ich nicht nach Macht strebe.»

«Das ist wahr. Ich weiß es. Es ist mir gesagt worden. Doch du leugnest nicht, dass du ein König bist?»

«Du sagst es. Ich bin ein König. Dazu bin ich in die Welt gekommen: dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Wer die Wahrheit liebt, hört auf meine Stimme.»

«Was ist Wahrheit? Bist du ein Philosoph? Das hilft nicht angesichts des Todes. Sokrates ist trotzdem gestorben.»

«Aber es hat ihm geholfen im Leben. Es hat ihm geholfen, gut zu leben. Und auch gut zu sterben und in das zweite Leben einzugehen ohne den Namen: Verräter der bürgerlichen Tugenden.»

«Beim Jupiter!» Pilatus schaut ihn einige Augenblicke bewundernd an. Dann ergreift sein sarkastischer Skeptizismus wieder von ihm Besitz. Er macht eine gelangweilte Geste, kehrt ihm den Rücken und wendet sich wieder den Juden zu.

«Ich finde keine Schuld an ihm.»

Die Menge tobt, da sie befürchtet, ihre Beute zu verlieren und auf das Schauspiel der Hinrichtung verzichten zu müssen. Sie schreit: «Er ist ein Rebell!» «Ein Gotteslästerer!» «Er fördert die Unzucht!» «Er ruft zum Aufstand auf!» «Er verweigert dem Caesar die gebührende Achtung!» «Er gibt sich als Prophet aus, ohne es zu sein!» «Er treibt Zauberei!» «Er ist ein Satan!» «Er wiegelt das Volk auf durch seine Lehren und lehrt nicht nur in Galiläa, von wo er gekommen ist, sondern auch in Judäa!»«Tod für ihn! Tod!»

«Ein Galiläer ist er? Bist du ein Galiläer?» Pilatus wendet sich Jesus zu. «Hörst du, wessen sie dich anklagen? Verteidige dich!»

Aber Jesus schweigt. Pilatus denkt nach... Er beschließt: «Eine Centurie. Und dann bringt diesen Mann zu Herodes. Er soll ihn richten. Er ist sein Untertan. Ich anerkenne das Recht des Tetrarchen, und sein Urteil unterschreibe ich im voraus. Sagt ihm das. Und nun geht.»

Von hundert Soldaten umgeben, wird Jesus wieder wie ein Verbrecher durch die Stadt geschleppt und begegnet noch einmal Judas Iskariot, den er schon einmal in der Nähe eines Marktes gesehen hat. Ich habe vergessen, es zu sagen, da ich mich zu sehr über die Gemeinheiten des Volkes aufgeregt habe. Jesus wirft wieder einen erbarmungsvollen Blick auf den Verräter...

Nun ist es schwieriger, ihn mit Fußtritten und Stockschlägen zu treffen, aber die Steine und der Unrat fehlen nicht... Die Steine prallen zwar krachend an den Helmen und Harnischen der Römer ab, ohne diese zu verletzen, hinterlassen jedoch bei Jesus, der nur mit dem Gewand bekleidet ist, da er seinen Mantel in Gethsemane gelassen hat, deutliche Spuren.

Als er den prunkvollen Palast des Herodes betritt, sieht er Chuza... der ihn nicht anzuschauen wagt, sich den Mantel über den Kopf zieht und flieht, um ihn nicht sehen zu müssen in diesem Zustand.

Nun ist er im Saal und vor Herodes. Und hinter ihm kommen die Schriftgelehrten und Pharisäer, die sich hier als falsche Ankläger wohlfühlen. Nur der Centurio und vier Soldaten führen ihn vor den Tetrarchen.

Dieser verläßt seinen Sitz und geht um Jesus herum, während er die Anklage seiner Feinde anhört. Er lächelt und spottet. Dann heuchelt er Mitleid und Achtung, was jedoch den Märtyrer ebenso wenig berührt wie zuvor der Spott.

«Du bist groß. Ich weiß es. Ich habe dich beobachtet und habe mich darüber gefreut, dass Chuza dein Freund und Manaen dein Jünger geworden ist. Ich... die Staatsangelegenheiten... Aber wie groß war mein Wunsch dir zu sagen, dass du groß bist. Dich um Verzeihung zu bitten... Die Augen des Johannes... und seine Stimme klagen mich an und verfolgen mich. Du bist der Heilige, der die Sünden der Welt vergibt. Sprich mich los, o Christus!»

Jesus schweigt.

«Ich habe gehört, dass du angeklagt bist, dich gegen Rom aufgelehnt zu haben. Aber bist du nicht die verheißene Rute, die Assur schlagen wird?»

Jesus schweigt.

«Man hat mir gesagt, dass du das Ende des Tempels und Jerusalems prophezeist. Aber ist denn der geistige Tempel nicht ewig, da ihn der Ewige will?»

Jesus schweigt.

«Bist du verrückt? Hast du deine Macht verloren? Hat Satan dir das Wort genommen? Hat er dich im Stich gelassen?»

Herodes lacht jetzt. Doch dann gibt er einen Befehl. Und einige Diener eilen herbei und bringen einen kläglich heulenden Windhund mit gebrochenem Bein und einen schwachsinnigen, sabbernden Stallknecht mit einem Wasserkopf, eine Mißgeburt, mit der sich die Diener die Zeit vertreiben.

Die Schriftgelehrten und die Priester weichen zurück und schreien: «Sakrileg!» als sie die Bahre mit dem Hund erblicken.

Herodes erklärt falsch und spöttisch: «Es ist der Lieblingshund der Herodias. Ein Geschenk von Rom. Er hat sich gestern ein Bein gebrochen, und sie weint. Befiehl, dass er geheilt wird. Wirke ein Wunder an ihm.»

Jesus sieht ihn streng an und schweigt.

«Habe ich dich beleidigt? Dann diesen hier. Er ist ein Mensch, wenn er auch nur wenig mehr als ein wildes Tier ist. Gib ihm den Verstand, du, Geist des Vaters... Sagst du nicht so?» Er lacht beleidigend.

Ein noch strengerer Blick Jesu, und Schweigen.

«Dieser Mensch ist zu enthaltsam, und nun ist er betäubt von all den Schmähungen. Bringt Wein und Weiber! Und bindet ihn los.»

Sie binden ihn los. Und während ein Heer von Dienern Krüge und Becher bringt, kommen Tänzerinnen herein... praktisch hüllenlos. Die einzige Bekleidung ist eine bunte, um Taille und Hüfte ihrer schlanken Körper geschlungene Leinenschärpe. Sonst nichts. Es sind bronzehäutige Afrikanerinnen. Gewandt wie junge Gazellen beginnen sie einen lautlosen und unzüchtigen Tanz.

Jesus weist die Becher zurück und schließt schweigend die Augen. Die Höflinge des Herodes lachen über seinen Abscheu.

«Nimm die, die du willst. Lebe! Lerne zu leben! ...» fordert Herodes ihn auf.

Jesus gleicht einer Statue. Mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen steht er da und rührt sich auch nicht, als die schamlosen Tänzerinnen ihn mit ihren nackten Körpern streifen.

«Genug. Ich habe dich als Gott behandelt, und du hast nicht als Gott gehandelt. Ich habe dich als Mensch behandelt, und du hast nicht als Mensch gehandelt. Du bist verrückt. Legt ihm ein weißes Gewand an, damit Pontius Pilatus weiß, dass der Tetrarch seinen Untergebenen für verrückt hält. Centurio, melde dem Prokonsul, dass Herodes ihm seine Hochachtung bezeigt und Rom seine Verehrung. 1)»

1) Der Prätor oder Prokonsul war der Gouverneur einer Provinz des römischen Reiches mit militärischer, ziviler und richterlicher Gewalt. Er war demnach der Oberkommandierende des Heeres, dass aus fünf Kohorten (etwa 3000 Soldaten) bestand, von denen eine in Jerusalem stationiert war. Er erhob die Steuern durch die Zöllner, er übte die richterliche

Jesus wird erneut gefesselt und hinausgeführt, mit einer bis an die Knie reichenden Leinen-Tunika über dem roten Wollgewand.

Sie kehren zu Pilatus zurück.

Als nun die Soldaten die Menge mit Mühe zurückgedrängt haben, die es nicht müde geworden ist, vor dem Palast des Prokonsuls zu warten – es ist befremdend, so viele Menschen an diesem Ort und in dieser Umgebung zu sehen, während der Rest der Stadt wie ausgestorben scheint – sieht Jesus die Hirten, alle beisammen in einer Gruppe: Isaak, Jonathan, Levi, Joseph, Elias, Matthias, Johannes, Simeon, Benjamin und Daniel; und neben ihnen ein Häufchen Galiläer, von denen ich Alphäus und Joseph des Alphäus wiedererkenne. Auch zwei andere, die ich nicht kenne, sind dabei, die ich aber nach ihrem Äußeren zu schließen für Judäer halte. Etwas weiter drüben, schon in der Vorhalle und halb hinter einer Säule verborgen, sieht er Johannes zusammen mit einem Römer, der wohl ein Diener ist. Er lächelt ihm und den anderen zu... seinen Freunden... Aber was sind diese wenigen und Johanna, Manaen und Chuza in einem Meer brodelnden Hasses? ...

Der Centurio grüßt Pontius Pilatus und erstattet Bericht.

«Wieder hier?! Puh! Diese verfluchte Rasse! Laßt den Pöbel näher kommen und bringt den Angeklagten hierher. Ach je, wie lästig!»

Er geht der Menge entgegen, bleibt aber in der Mitte der Vorhalle stehen.

«Hebräer, hört! Ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht und behauptet, er wiegle das Volk auf. Vor euren Augen habe ich ihn geprüft und habe ihn keines der Vergehen schuldig befunden, deren ihr ihn anklagt. Auch Herodes hat nicht mehr als ich gefunden und ihn zu mir zurückgesandt. Er verdient den Tod nicht. Rom hat gesprochen. Um euch jedoch nicht ungefällig zu sein und euch nicht um euer Schauspiel zu bringen, gebe ich euch an seiner Statt Barabbas. Diesen hier werde ich mit vierzig Peitschenhieben bestrafen lassen. Das ist genug.»

«Nein, nein! Nicht Barabbas! Nicht Barabbas! Jesus muss sterben! Eines schrecklichen Todes. Gib Barabbas frei und verurteile den Nazarener!»

«Aber hört! Ich habe die Auspeitschung angeordnet. Genügt das nicht? Dann lasse ich ihn geißeln! Das ist furchtbar, ihr wißt es. Man kann daran sterben. Was hat er Böses getan? Ich finde keine Schuld an ihm und werde ihn freilassen.»

Gewalt aus und besaß das dem Synedrium verwehrte Recht, zum Tod zu verurteilen (jus gladii). Die Residenz eines solchen Gouverneurs, die auch der Sitz des Gerichtes war, wurde Prätorium genannt. Pilatus war Prokurator von Judäa, Idumäa und Samaria von 26 bis 36 nach Christus. Der Tetrarch hingegen, in den Evangelien auch volkstümlich König genannt, war das Oberhaupt einer der (ursprünglich vier) Regionen, in die eine Provinz des römischen Imperiums eingeteilt wurde. Herodes Antipas, der Sohn des Herodes des Großen, war Tetrarch von Galiläa und Peräa von 4 vor Christus bis 39 nach Christus.

«Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Er muss sterben! Du schützst die Verbrecher! Heide! Auch du bist ein Teufel!»

Die Menge kommt näher, und die erste Reihe der Soldaten wankt unter dem Aufprall und kann die Lanzen nicht gebrauchen. Doch die zweite Reihe kommt eine Stufe herunter, legt die Speere ein und befreit die Gefährten.

«Er soll gegeißelt werden», befiehlt Pilatus einem der Centurionen.

«Wann?»

«Wann du willst... damit es ein Ende hat. Ich bin sehr verärgert. Geh!»

Jesus wird von vier Soldaten in den Hof hinter dem Atrium geführt, der einen Boden aus buntem Marmor hat und in dessen Mitte eine hohe Säule steht, ähnlich denen des Portikus. Daran befindet sich etwa drei Meter über dem Boden eine eiserne Querstange, die in einem Ring endet. An diesen wird Jesus mit über den Kopf erhobenen Händen gebunden, nachdem er sich entkleidet hat. Er hat jetzt nur noch eine kurze Leinenhose und Sandalen an. Die an den Gelenken zusammengebundenen Hände werden hinaufgezogen bis zu dem Ring, so dass er trotz seiner Größe den Boden nur noch mit den Fußspitzen berührt... Schon diese Stellung muss eine Tortur sein.

Ich habe irgendwo gelesen, dass die Säule niedrig gewesen sei und Jesus gebückt stehen musste. Mag sein. Ich sehe es so und sage es so.

Hinter Jesus stellt sich einer mit einem Henkergesicht reinsten hebräischen Profils. Vor Jesus ein anderer mit demselben Aussehen. Sie haben eine Geißel aus sieben Lederriemen, die an einem Griff befestigt sind und in einem Hämmerchen aus Blei enden. Rhythmisch, als wäre es eine Übung, fangen sie an zu schlagen. Der eine von vorne, der andere von hinten, so dass der Körper Jesu ringsum von Schlägen getroffen wird. Die vier Soldaten, denen man ihn übergeben hat, machen gleichgültig mit drei anderen Soldaten, die noch dazugekommen sind, ein Würfelspiel.

Die Stimmen der Spieler vermischen sich mit dem Geräusch der Geißeln, die wie Schlangen zischen und sich dann anhören wie Steine, die auf das straff gespannte Leder einer Trommel fallen, wenn sie den armen schlanken Körper von der Farbe alten Elfenbeins treffen. Zuerst hinterlassen sie rosarote Streifen, die immer dunkler und schließlich violett werden, dann bilden sich dunkelblaue, blutgefüllte Schwellungen, die aufreißen und am ganzen Körper Blut fließen lassen. Sie schlagen hauptsächlich auf den Oberkörper und den Unterleib, aber auch Beine, Arme und sogar den Kopf lassen sie nicht aus, damit kein schmerzfreies Fleckchen Haut übrigbleibt.

Und keine Klage... Wenn der Strick ihn nicht halten würde, würde er zu Boden fallen. Aber er fällt nicht und er stöhnt nicht. Nur der Kopf sinkt ihm auf die Brust nach so vielen Schlägen, so als wenn er ohnmächtig geworden wäre.

«Halt! Hört auf! Er muss noch lebendig hingerichtet werden!» höhnt ein Soldat.

Die beiden Henker halten ein und trocknen sich den Schweiß ab.

«Wir sind völlig erledigt», sagen sie. «Gebt uns den Lohn, damit wir trinken und uns erholen können.»

«Hängen sollte man euch! Doch nehmt ...» und ein Decurio wirft jedem der beiden eine große Münze zu.

«Ihr habt eure Pflicht getan. Er gleicht einem Mosaik. Titus, sag, war dieser Mensch wirklich die Liebe des Alexander? Dann wollen wir ihn benachrichtigen, damit er Trauer tragen kann. Binden wir ihn jetzt los.»

Sie binden Jesus los, und dieser sinkt wie tot zu Boden. Sie lassen ihn liegen und stoßen ihn nur ab und zu mit den Stiefeln an, um zu sehen, ob er klagt.

Aber er schweigt.

«Ob er tot ist? Wäre es möglich? Er ist jung und ein Handwerker, hat man mir gesagt... aber er gleicht einer zarten Dame ...»

«Laß mich nur machen», sagt ein Soldat. Er setzt ihn auf und lehnt ihn mit dem Rücken an die Säule. Wo er gelegen ist, sind Blutlachen... Dann geht der Soldat zu einem Brunnen, der unter dem Tor plätschert, füllt einen Eimer mit Wasser und schüttet es über den Kopf und den Körper Jesu. «So, den Blumen tut das Wasser gut.»

Jesus seufzt tief und will aufstehen, aber noch bleibt er mit geschlossenen Augen sitzen.

«Oh! Gut! Auf, Schöner! Eine Dame wartet auf dich! ...»

Aber vergebens stemmt Jesus die Hände auf den Boden, um aufzustehen.

«Los, rasch! Bist du schwach? Hier ist eine Erfrischung», grinst ein anderer Soldat. Mit dem Schaft seiner Hellebarde versetzt er Jesus einen Schlag ins Gesicht und trifft ihn zwischen dem rechten Jochbogen und der Nase, die zu bluten beginnt.

Jesus öffnet die Augen und blickt um sich. Ein verschleierter Blick. Er schaut den Soldaten an, der ihn geschlagen hat, wischt sich mit der Hand das Blut ab und stellt sich dann mit großer Mühe auf die Füße.

«Zieh dich an. Es ist nicht anständig, so herumzustehen, Schamloser!»Alle umringen Jesus und lachen.

Jesus gehorcht wortlos. Aber während er sich bückt – und nur er weiß, was er dabei leidet, zerschlagen wie er ist und mit Wunden, die sich durch die Anspannung der Haut noch weiter öffnen, und blutgefüllten Schwellungen, die aufbrechen – gibt ein Soldat den Kleidern einen Tritt und zerstreut sie. Und jedesmal, wenn Jesus sich nach ihnen bücken will, nachdem er sie wankend erreicht hat, stößt oder wirft ein Soldat sie in eine andere Richtung. Jesus, der furchtbar leidet, sagt nichts und versucht sie zu holen, während die Soldaten obszöne Späße über ihn machen.

Endlich kann er sich wieder anziehen. Er legt auch das weiße Gewand wieder an, dass in einer Ecke gelegen und sauber geblieben ist. Es sieht aus, als wolle er sein armes rotes Gewand verbergen, dass gestern noch so schön war und heute von Unrat beschmutzt und von dem in Gethsemane geschwitzten Blut befleckt ist. Bevor er die kurze Tunika anzieht, wischt er sich damit sogar das nasse Antlitz ab und reinigt es von Staub und Speichel. Und das arme, heilige Antlitz erscheint rein und nur von kleinen bläulichen Wunden gezeichnet. Jesus streicht seine zerzausten Haare und seinen Bart glatt, in einem angeborenen Bedürfnis, ordentlich auszusehen.

Dann kauert er sich in der Sonne zusammen, denn er zittert, mein Jesus... Das Fieber beginnt, und damit auch der Schüttelfrost. Auch die Schwäche nach dem Blutverlust, dem Fasten und dem vielen Gehen macht sich bemerkbar.

Sie binden ihm erneut die Hände. Der Strick schneidet dort ein, wo schon ein roter Streifen abgeschürfter Haut ist.

«Und nun? Was tun wir mit ihm? Mir ist langweilig.»

«Warte. Die Juden wollen einen König. Nun, wir geben ihnen einen. Diesen da...» sagt ein Soldat.

Er eilt hinaus, gewiss in einen weiter hinten liegenden Hof, von wo er mit einem Bündel Weißdorn zurückkommt. Jetzt, im Frühling, sind die Zweige noch relativ weich und biegsam, die langen, spitzen Dornen aber sehr hart. Mit ihren Dolchen entfernen sie Blätter und Blüten, biegen die Zweige zu einem Kranz und drücken ihn auf das arme Haupt. Aber die barbarische Krone fällt auf den Hals.

«Sie paßt nicht. Wir müssen sie kleiner machen. Nimm sie wieder weg.»

Sie nehmen die Krone herunter, zerkratzen ihm dabei die Wangen, stechen ihm beinahe die Augen aus und reißen ihm auch Haare aus. Sie machen sie kleiner. Aber nun ist sie zu klein, und soviel sie auch drücken und dadurch die Dornen in Jesu Kopf treiben, droht sie doch herunterzufallen. Wieder nehmen sie sie herunter und reißen noch mehr Haare aus. Sie verändern sie noch einmal, und nun paßt sie. Vorne ist ein dreifacher Dornenreif. Hinten, wo die Enden der drei Zweige ineinandergeschlungen sind, ist ein richtiger Knoten aus Dornen, die Jesus in den Nacken dringen.

«Siehst du, wie gut sie dir steht? Naturbronze und echte Rubine. Spiegle dich in meinem Harnisch, o König!» spottet der Erfinder dieser Qual.

«Eine Krone allein genügt nicht, um einen König zu machen. Er braucht auch Purpur und ein Szepter. Im Stall ist ein Rohr, und auf dem Abfall liegt ein roter Mantel. Hole sie, Cornelius.»

Bald darauf legen sie Jesus den schmutzigen roten Fetzen um die Schultern, und bevor sie ihm das Rohr in die Hände geben, schlagen sie ihn damit auf das Haupt, verneigen sich und grüßen: «Ave, König der Juden!»Dabei schütteln sie sich vor Lachen.

Jesus läßt sie gewähren. Er läßt sich auf einen «Thron» setzen, eine umgestülpte Wanne, die sonst wohl als Pferdetränke dient; er läßt sich schlagen und verspotten, ohne jemals etwas zu sagen. Er schaut sie nur an... und sein Blick ist so voll Güte, aber auch so voll des furchtbarsten Schmerzes, dass ich ihn nicht ertragen kann, ohne mein Herz dadurch verwundet zu fühlen.

Die Soldaten hören erst auf zu spotten, als ihnen die rauhe Stimme eines Vorgesetzten gebietet, den Schuldigen wieder vor Pilatus zu bringen.

Schuldig? Wessen?

Jesus wird in das Atrium zurückgeführt, dass nun durch einen kostbaren Vorhang vor der Sonne geschützt ist. Jesus hat noch die Krone, den Umhang und das Rohr.

«Komm nach vorne, damit ich dich dem Volk zeigen kann.»

Obwohl er schon völlig gebrochen ist, richtet sich Jesus doch würdevoll auf. Oh, er ist wirklich ein König!

«Hört, Hebräer! Hier ist der Mensch. Ich habe ihn bestraft. Aber nun laßt ihn gehen.»

«Nein, nein! Wir wollen ihn sehen! Heraus mit ihm! Wir wollen den Gotteslästerer sehen!»

«Führt ihn hinaus und gebt acht, dass man sich nicht seiner bemächtigt!»

Während Jesus in die Vorhalle hinausgeht und sich im Viereck der Soldaten dem Volk zeigt, weist Pontius Pilatus mit der Hand auf ihn und sagt: «Seht, welch ein Mensch! Euer König! Ist es noch nicht genug?»

Die Sonne eines schwülen Tages, die nun fast im Zenit steht, denn es ist schon zwischen der dritten und der sechsten Stunde, entzündet und akzentuiert noch die Blicke und die Gesichter. Sind das noch Menschen? Nein. Es sind tollwütige Hyänen. Sie heulen, schütteln die Fäuste und fordern den Tod...

Jesus steht aufrecht da, und ich kann versichern: Niemals war er so erhaben wie jetzt. Nicht einmal, als er die größten Wunder vollbrachte. Der Adel des Schmerzes! Aber so göttlich, dass er schon allein deshalb als Gott anerkannt werden müßte. Doch um diesen Namen sagen zu können, muss man wenigstens ein Mensch sein. In Jerusalem gibt es heute aber keine Menschen, sondern nur Dämonen.

Jesus läßt seine Blicke über die Menge schweifen, sucht und findet im Meer der haßerfüllten Gesichter die Gesichter der Freunde. Wie viele? Weniger als zwanzig unter Tausenden von Feinden... Er neigt das Haupt in Trauer über diese Verlassenheit. Eine Träne fällt... noch eine... und noch eine... Der Anblick seiner Tränen erzeugt kein Mitleid, sondern noch wilderen Haß.

Er wird in das Atrium zurückgebracht.

«Nun? Laßt ihn gehen. Es ist gerecht.»

«Nein. Zum Tod. Kreuzige ihn.»

«Ich gebe euch Barabbas.»

«Nein, den Messias!»

«So nehmt ihr ihn. Kreuzigt ihn selbst, denn ich finde keine Schuld an ihm.»

«Er hat sich Sohn Gottes genannt. Unser Gesetz sieht die Todesstrafe für den vor, der einer solchen Gotteslästerung schuldig ist.»

Pilatus wird nachdenklich. Er geht wieder hinein und setzt sich auf seinen Thron. Er führt eine Hand an die Stirn, stützt den Ellbogen auf sein Knie und schaut Jesus prüfend an.

«Komm näher», sagt er.

Jesus begibt sich zu dem Podest.

«Ist das wahr? Antworte.»

Jesus schweigt.

«Woher kommst du? Wer ist Gott?»

«Er ist das Alles!»

«Ja und? Was heißt, dass Alles? Was ist das Alles für den, der stirbt? Du bist verrückt... Gott ist nicht. Ich bin.»

Jesus schweigt. Er hat ein großes Wort gesprochen und hüllt sich nun in Schweigen.

«Pontius, die Freigelassene der Claudia Procula bittet, eintreten zu dürfen. Sie hat ein Schreiben für dich.»

«Domine! Auch noch die Frauen jetzt! Sie soll kommen.»

Eine Römerin kommt herein, kniet nieder und reicht ihm ein Wachstäfelchen. Es muss das Täfelchen sein, auf dem Procula den Gatten bittet, Jesus nicht zu verurteilen. Die Frau zieht sich rückwärts gehend zurück, während Pilatus liest.

«Man rät mir, deinen Tod zu vermeiden. Ist es wahr, dass du mehr als ein Haruspex bist? Du machst mir Angst.»

Jesus schweigt.

«Weißt du denn nicht, dass ich Macht habe, dich freizugeben oder dich zu kreuzigen?»

«Du hättest keine Macht, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre. Deshalb hat der, der mich dir überliefert hat, eine größere Schuld als du.»

«Wer ist es? Dein Gott? Ich habe Angst ...»

Jesus schweigt.

Pilatus sitzt auf Kohlen. Er möchte und möchte nicht. Er fürchtet die Strafe Gottes, fürchtet Rom, fürchtet die Rache der Juden. Einen Augenblick siegt die Furcht vor Gott. Er geht nach vorne im Atrium und ruft laut: «Er ist nicht schuldig!»

«Wenn du das sagst, bist du ein Feind des Caesar. Wer sich zum König macht, ist sein Feind. Du willst den Nazarener freigeben. Wir werden es den Caesar wissen lassen.»

Pilatus wird von Menschenfurcht ergriffen.

«Ihr wollt also seinen Tod? Es sei denn. Aber das Blut dieses Gerechten sei nicht an meinen Händen.» Pilatus läßt sich ein Becken bringen und wäscht sich die Hände im Beisein des Volkes, dass in Raserei gerät und schreit: «Über uns, über uns komme sein Blut. Über uns und unsere Kinder komme es. Wir fürchten ihn nicht. Ans Kreuz! Ans Kreuz!»

Pontius Pilatus geht zu seinem Thron zurück und ruft den Centurio Longinus und einen Sklaven zu sich. Von dem Sklaven läßt er sich einen Tisch und ein Schild bringen, auf das er schreiben läßt: «Jesus von Nazareth, der König der Juden.» Dann zeigt er es dem Volk.

«Nein, nicht so. Nicht König der Juden. Schreibe, dass er behauptet hat, der König der Juden zu sein.»

«Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben!» sagt Pilatus hart. Er steht sehr gerade, streckt die Hand aus mit nach vorne gekehrter und nach unten zeigender Handfläche und befiehlt: «Dann soll er ans Kreuz! Soldat, geh. Bereite das Kreuz vor.» (Ibis ad crucem! I, miles, expedi crucem.) Er steigt von seinem Podest herab und verläßt das Atrium, ohne sich auch nur zu der lärmenden Menge oder dem bleichen Verurteilten umzudrehen.

Jesus bleibt unter Aufsicht der Soldaten in der Mitte des Atriums stehen, in Erwartung des Kreuzes.

Wem kann ich beschreiben, was ich leide? Keinem auf dieser Erde, denn es ist kein Leiden der Erde und würde nicht verstanden werden. Es ist ein Leiden, dass Süßigkeit ist, und eine Süßigkeit, die Leiden ist. Ich möchte zehnmal, hundertmal so viel leiden. Um nichts auf der Welt möchte ich diese Leiden missen. Das ändert aber nichts daran, dass ich leide, wie einer, dem der Hals zugeschnürt, der in einen Schraubstock gepreßt, in einem Ofen verbrannt oder dem das Herz durchbohrt wird.

Wäre es mir möglich, mich zu rühren, mich von allen abzusondern und in der Bewegung und im Gesang meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen – denn es ist ein Schmerz des Gefühls – würde mir dies Erleichterung verschaffen. Aber ich bin wie Jesus am Kreuz. Es ist mir weder gewährt, mich zu bewegen noch mich zu isolieren, und ich muss die Lippen zusammenpressen, um den Neugierigen meine süße Agonie nicht preiszugeben. Es ist nicht nur Redensart: die Lippen zusammenpressen. Ich muss mich sehr bemühen, den Impuls zu beherrschen, meinem Schrei der Freude und des übernatürlichen Schmerzes Luft zu machen, denn er bewegt mein Innerstes und steigt mit der Macht einer Flamme oder eines starken Wasserstrahls auf.

Die von Schmerz getrübten Augen Jesu: Ecce Homo, ziehen mich an wie ein Magnet. Er steht vor mir und sieht mich an, aufrecht steht er auf den Stufen des Prätoriums, mit gekröntem Haupt und den gebundenen Händen über dem weißen Gewand eines Geistesgestörten, mit dem sie ihn verspotten wollten, während sie ihn doch in das des Unschuldigen würdige Weiß gekleidet haben. Er spricht nicht. Aber alles an ihm spricht, ruft mich, bittet mich.

Was erbittet er? dass ich ihn liebe. Das weiß ich, und das gebe ich ihm, bis ich mich sterben fühle, so als hätte ich ein Messer in der Brust. Er bittet mich aber noch um etwas, dass ich nicht verstehe. Ich würde es gern verstehen. Das quält mich. Ich möchte ihm alles geben, was er will, selbst wenn ich daran sterben sollte. Und es gelingt mir nicht.

Sein schmerzerfülltes Antlitz zieht mich an und entzückt mich. Er ist schön, wenn er der Meister oder der auferstandene Christus ist. Aber dieser Anblick macht mir nur Freude. Der

jetzige hingegen flößt mir eine so tiefe Liebe ein, dass die Liebe einer Mutter zu ihrem kranken Kind nicht größer sein kann.

Ja, ich verstehe. Die mitleidende Liebe ist die Kreuzigung des Geschöpfes, dass dem Meister bis zur letzten Qual folgt. Es ist eine despotische Liebe, die jeglichen anderen Gedanken ausschließt, der sich nicht auf seinen Schmerz bezieht. Man gehört sich selbst nicht mehr. Man lebt, um ihn in seiner Qual zu trösten, und seine Qual ist unser Schmerz, der uns tötet, nicht nur im übertragenen Sinn. Und doch ist jede durch diesen Schmerz vergossene Träne für uns wertvoller als eine Perle, und jeder Schmerz, der dem seinen ähnlich erscheint, ist uns erwünschter und begehrenswerter als ein Schatz.

Pater, ich habe mich bemüht zu sagen, was ich empfinde. Aber es ist zwecklos. Von allen Ekstasen, die Gott mir schenken kann, wird die seines Leidens immer jene sein, die meine Seele in den siebten Himmel trägt. Aus Liebe zu sterben in der Betrachtung meines leidenden Jesus scheint mir der schönste Tod zu sein.

ANMERKUNGEN ÜBER DAS VERHALTEN DES PILATUS

JESUS GEGENÜBER

Jesus sagt:

«Ich will dich über meine Begegnungen mit Pilatus nachdenken lassen.

Johannes, der fast immer anwesend oder doch in der Nähe war, ist der genaueste Zeuge und Berichterstatter. Er erzählt, dass ich, nachdem ich das Haus des Kaiphas verlassen hatte, zum Prätorium geführt wurde. Und er gibt an, dass dies am frühen Morgen geschah. Du hast gesehen, dass der Tag gerade angebrochen war. Er berichtet auch: „Sie (die Juden) gingen nicht hinein, um sich nicht zu verunreinigen und das Passahmahl essen zu können.“ Heuchlerisch wie immer, sahen sie eine Gefahr sich zu verunreinigen, wenn sie in den Staub des Hauses eines Heiden treten würden, während sie die Ermordung eines Unschuldigen nicht als Sünde betrachteten und in der Genugtuung über das vollendete Verbrechen das Passahfest noch besser genießen konnten.

Sie haben auch heute noch ihresgleichen. All jene, die insgeheim schlecht handeln und nach außen vorgeben, die Religion zu achten und Gott zu lieben, sind wie sie. Floskeln, Phrasen, aber keine wahre Religion! Sie stoßen mich ab, ich verachte sie.

Da die Juden nicht zu Pilatus hineingingen, kam Pilatus zu ihnen heraus, um zu hören, was die schreiende Menge wollte, und da er in der Verwaltung und Rechtspflege erfahren war, verstand er auf den ersten Blick, dass der Schuldige nicht ich, sondern dieses von Haß trunkene Volk war. Die Begegnung unserer Blicke war ein gegenseitiges Erkennen unserer Herzen. Ich beurteilte den Mann als den, der er war. Er beurteilte mich als den, der ich war. Ich bekam Mitleid mit ihm, denn er war ein schwacher Mann. Er empfand Mitleid für mich, weil ich unschuldig war. Er versuchte vom ersten Augenblick an, mich zu retten. Da allein Rom das Recht hatte,

die Todesstrafe über einen Übeltäter zu verhängen, versuchte er mich zu retten, indem er sagte: „Richtet ihn nach eurem Gesetz.“

Als Heuchler, nun zum zweiten Mal, wollten die Juden die Verurteilung nicht aussprechen. Es ist wahr, dass Rom die oberste Gerichtsbarkeit innehatte. Als aber beispielsweise Stephanus gesteinigt wurde, herrschte Rom noch immer über Jerusalem. Und trotzdem beschlossen und sprachen die Juden das Urteil aus und vollzogen die Hinrichtung, ohne sich im geringsten um Rom zu kümmern. Mit mir, den sie nicht liebten, sondern haßten und fürchteten – denn sie wollten nicht an mich als an den Messias glauben, sie wollten mich aber auch nicht töten, falls ich es etwa doch wäre – verfuhren sie auf andere Art. Sie klagten mich an als Aufwiegler gegen die Macht Roms, ihr würdet sagen, als Rebell, um zu erreichen, dass Rom mich verurteilt. In ihren schändlichen Versammlungen, und dies mehrmals in den drei Jahren meines öffentlichen Wirkens, hatten sie mich als Gotteslästerer und falschen Propheten angeklagt. Als solchen hätten sie mich steinigen oder auf irgendeine Art töten müssen. Aber nun, um das Verbrechen nicht direkt zu begehen, denn sie wissen instinktiv, dass es bestraft werden wird, lassen sie es Rom ausführen, indem sie mich als Missetäter und Rebell anklagen. Wenn das Volk verderbt ist und die Vorsteher besessen sind, ist nichts leichter, als einen Unschuldigen anzuklagen, um die eigenen Zornesgelüste an ihm auszulassen und jemanden aus der Welt zu schaffen, der ein Hindernis darstellt und als Richter empfunden wird.

Wir befinden uns heute wieder in einer ähnlichen Zeit wie damals. Immer wieder einmal erfolgt in der Welt, nachdem sie perverse Ideen ausgebrütet hat, ein Ausbruch, eine Kundgebung von Verderbtheit. Wie eine riesige Schwangere gebiert die Menge ein Ungeheuer, dass sie zuvor in ihrem Busen mit den Lehren einer reißenden Bestie genährt hat, auf dass es verschlinge. Und es verschlingt, zuerst die Guten, dann sich selbst.

Pilatus kommt in das Prätorium zurück und ruft mich zu sich. Und er verhört mich. Er hatte schon von mir gehört. Unter seinen Centurionen waren einige, die meinen Namen mit dankbarer Liebe, mit Tränen in den Augen und einem Lächeln im Herzen wiederholten und von mir als von einem Wohltäter sprachen. In ihren Berichten an den Prätor, der sie über diesen Propheten befragte, der die Mengen um sich sammelte und eine neue Lehre predigte, in der von einem merkwürdigen Reich die Rede war, dass für einen heidnischen Verstand unbegreiflich ist, hatten sie immer bestätigt, dass ich gut und sanftmütig war und die Ehren dieser Welt nicht suchte, sondern Achtung und Gehorsam gegenüber der Autorität lehrte und auch übte. Aufrichtiger als die Israeliten, sahen und berichteten sie die Wahrheit. Am Sonntag zuvor hatte Pilatus, vom Lärm und Beifall des Volkes angezogen, auf die Straße hinausgeschaut und einen waffenlosen Mann auf einem Eselchen vorbeireiten sehen, der segnete und von Frauen und Kindern umgeben war. Es war ihm klar, dass dieser Mann keine Gefahr für Rom bedeuten konnte. Also wollte er wissen, ob ich ein König bin. In seinem ironischen, heidnischen Skeptizismus wollte er ein wenig über diesen König lachen, der auf einem Esel geritten kommt und dessen Hofstaat barfüßige Kinder, lächelnde Frauen und Männer aus dem Volk sind; über diesen König, der seit drei Jahren predigt, dass er sich weder von Reichtum noch von Macht angezogen fühlt und der von keiner anderen Eroberung spricht als der des Geistes und der Seele. Was ist schon die Seele für einen Heiden? Nicht einmal seine Götter haben eine Seele. Und da soll der Mensch eine Seele haben? Und auch jetzt wiederholt dieser König ohne Krone, ohne Reich, ohne Hofstaat und ohne Soldaten, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist. So musste es sein, denn kein Beamter und kein Militär greift ein, um seinen König zu verteidigen und ihn seinen Feinden zu entreißen. Pilatus setzt sich und schaut mich fragend an, denn ich bin ihm ein Rätsel. Würde er seine Seele befreien von irdischen Belangen, vom Hochmut seines Amtes, vom Irrtum des Heidentums, dann würde er sofort verstehen, wer ich bin. Aber wie kann das Licht dort eindringen, wo allzu viele Dinge ihm den Eintritt verwehren?

Es ist immer so, meine Kinder. Auch heute noch. Wie können Gott und sein Licht hereinkommen, wo kein Platz mehr für sie ist und Türen und Fenster verrammelt sind und Hochmut, allzu Menschliches, Laster und Wucher sie verteidigen – viele, so viele Wächter im Dienst Satans und gegen Gott?

Pilatus kann nicht begreifen, was mein Reich ' ist. Und was besonders schmerzlich ist, er bittet nicht darum, dass ich es ihm erkläre. Auf meine Einladung, die Wahrheit kennenzulernen, antwortet der unverbesserliche Heide: „Was ist Wahrheit?“ und läßt die Frage mit einem Achselzucken fallen.

Oh, Kinder, meine Kinder! Oh, meine Pilatusse von heute! Auch ihr schüttelt, wie Pontius Pilatus, mit einem Achselzucken die lebenswichtigsten Fragen ab. Sie scheinen euch unnütze, überholte Dinge. Was ist Wahrheit? Geld? Nein. Frauen? Nein. Macht? Nein. Ein gesunder Körper? Nein. Menschliche Ehre? Nein. Also ist es besser, die Sache zu vergessen. Es lohnt sich nicht, einer Schimäre nachzulaufen. Frauen, Geld, Macht, Gesundheit, Bequemlichkeit und Ehren, dass sind konkrete, nützliche Dinge, begehrens- und erstrebenswert um jeden Preis. So argumentiert ihr. Schlimmer als Esau verschleudert ihr die ewigen Güter für ein schlechtes Gericht, dass der Gesundheit des Leibes und der Seele schadet. Warum besteht ihr nicht darauf, zu erfahren, was Wahrheit ist? Sie, die Wahrheit, wartet nur darauf, sich zu erkennen zu geben und euch zu belehren. Sie steht vor euch wie vor Pilatus und sieht euch mit liebevollen Augen bittend an: „Frage mich, ich werde dich unterweisen.“ Siehst du, wie ich Pilatus anschaue? Genauso schaue ich euch alle an. Und wenn ich mit Blicken freudvoller Liebe auf alle schaue, die mich liebenund um mein Wort bitten, so schaue ich mit Blicken trauriger Liebe auf die anderen, die mich nicht lieben, mich nicht suchen und nicht auf mich hören. Liebe und immer nur Liebe habe ich für alle, denn mein ganzes Wesen ist Liebe.

Pilatus läßt mich stehen, ohne mich weiter zu fragen, und geht zu den Böswilligen, die eine lautere Stimme haben und sich durch ihre Gewalttätigkeit durchsetzen. Auf sie hört er, dieser Unglückliche, der mich nicht anhört und mit einem Achselzucken meine Einladung zur Erkenntnis der Wahrheit ablehnt. Er hört auf die Lüge. Der Götzendiener, welcher Art er auch sei, neigt immer dazu, jedwede Lüge zu verehren und zu glauben. Und die Lüge, die ein Schwacher glaubt, führt den Schwachen zum Verbrechen. Und doch versucht Pilatus, schon an der Schwelle zum Verbrechen, mich noch ein- oder zweimal zu retten. Und daher schickt er mich zu Herodes. Er weiß nur zu gut, dass dieser gerissene König, der zwischen Rom und seinem Volk laviert, so handeln wird, dass er Rom nicht beleidigt und das hebräische Volk nicht verstimmt. Wie alle Schwächlinge verschiebt er die Entscheidung, die er nicht zu treffen wagt, um eine Stunde, in der Hoffnung, dass das aufgeregte Volk sich beruhigt.

Ich habe gesagt: „Eure Rede sei: ja, ja; nein, nein.“ Aber er hat es nicht gehört, und wenn jemand es ihm wiederholt hat, dann hat er wie üblich die Achseln gezuckt. Um in der Welt zu siegen, um Ehren und Gewinn zu erlangen, muss man es verstehen, aus einem „Ja“ ein „Nein“ oder aus einem „Nein“ ein „Ja“ zu machen, je nachdem, wie der Verstand (lies: der menschliche Verstand) es rät. Wie viele, wie viele Pilatusse hat das zwanzigste Jahrhundert! Wo sind die Helden des Christentums, die „Ja“ sagen, immer „Ja“ zur Wahrheit und um der Wahrheit willen, und „Nein“, immer „Nein“ zur Lüge? Wo sind die Helden, die der Gefahr und den Ereignissen mit vollendetem Starkmut und heiterer Bereitschaft begegnen und nicht zögern, dass Gute sofort zu tun und das Böse sofort zu fliehen, ohne „wenn“ und „aber“?

Bei meiner Rückkehr von Herodes folgt nun das neue Unternehmen des Pilatus: die Geißelung. Was erhoffte er sich davon? Wußte er nicht, dass das Volk die wilde Bestie ist, die noch wilder wird, wenn sie Blut riecht? Aber ich musste zerfleischt werden, um eure Fleischessünden zu sühnen. Und immer noch werde ich zerfleischt. Es gibt an meinem Körper keine Stelle mehr, die nicht zerschlagen ist. Ich bin der Mensch, von dem Isaias spricht. Zu der befohlenen Marter kommt die nicht befohlene, aber von der menschlichen Grausamkeit erdachte: die Dornenkrönung.

Ihr seht ihn, o Menschen, euren Erlöser, euren König, mit Schmerzen gekrönt, um eure Köpfe von so vielen Sünden zu befreien, die in euch gären. Denkt ihr denn nicht daran, welche Schmerzen mein unschuldiges Haupt erduldet hat, um für euch, für eure immer schlimmeren Gedankensünden, die oft zur Tat werden, zu bezahlen? Ihr, die ihr beleidigt seid, auch wenn ihr keinen Grund dazu habt, betrachtet den beleidigten König, der Gott ist, mit seinem Spottmantel aus zerrissenem Purpur, dem Rohr als Szepter und der Dornenkrone! Er ist schon am Sterben, und immer noch schlagen sie ihn mit ihren Händen und ihrem Spott. Aber ihr habt kein Mitleid. Wie die Juden schüttelt ihr unaufhörlich die Fäuste und schreit: „Fort, fort, wir haben keinen Gott als den Caesar.“ Oh, ihr Götzendiener, die ihr nicht Gott, sondern euch selbst anbetet und den, der unter euch der Überheblichste ist. Ihr wollt den Sohn Gottes nicht. Er hilft euch nicht bei euren Verbrechen. Satan ist diensteifriger. Daher wollt ihr Satan. Vor dem Sohn Gottes habt ihr Angst. Wie Pilatus. Und wenn ihr seine Macht in euch am Werk fühlt, die euch aufrütteln will durch die Stimme des Gewissens, dann fragt ihr wie Pilatus: „Wer bist du?“

Ihr wißt, wer ich bin. Auch die, die mich leugnen, wissen, dass ich bin und wer ich bin. Lügt nicht. Zwanzig Jahrhunderte sprechen für mich, zeigen euch, wer ich bin, und belehren euch über meine Wunder. Pilatus ist eher zu verzeihen. Nicht euch, die ihr zweitausend Jahre Christentum hinter euch habt, die euren Glauben stützen oder euch zum Glauben führen müßten. Aber ihr wollt davon nichts wissen. Trotzdem war ich mit Pilatus strenger als mit euch. Ich habe ihm nicht geantwortet. Mit euch spreche ich. Und doch gelingt es mir nicht, euch zu überzeugen, dass ich es bin, dass ihr mir Anbetung und Gehorsam schuldet. Auch jetzt beschuldigt ihr mich, dass ich mich selbst zerstöre in euch, weil ich euch nicht erhöre. Ihr sagt, dass ihr deshalb den Glauben verliert. Oh, ihr Lügner! Wo ist euer Glaube? Wo ist eure Liebe? Wann betet ihr denn und lebt mit Liebe und Glauben? Seid ihr angesehen? Vergeßt nicht, dass ihr es seid, weil ich es erlaube. Seid ihr Namenlose in der Menge? Denkt daran, dass es keinen Gott gibt als mich. Niemand ist größer als ich und niemand hat Vorrang vor mir. Gebt mir daher die Liebe, die mir zusteht, und ich werde euch erhören, denn ihr werdet nicht mehr Bastarde sein, sondern Kinder Gottes.

Pilatus unternimmt nun noch einen letzten Versuch, mein Leben zu retten, sofern es nach der mitleidlosen und langen Geißelung noch zu retten gewesen wäre. Er stellt mich dem Volk vor: „Seht, welch ein Mensch!“ Er hat menschliches Mitleid mit mir. Er hofft auf das allgemeine Mitleid. Aber angesichts der Härte, die ihm widersteht, und der zunehmenden Drohung bringt er es nicht fertig, mit übernatürlicher Gerechtigkeit und daher gut zu handeln und zu sagen: „Ich lasse ihn frei, denn er ist unschuldig. Ihr seid die Schuldigen, und wenn ihr euch nicht zerstreut, werdet ihr die ganze Strenge Roms kennenlernen.“ Das hätte er sagen müssen, wenn er ein Gerechter gewesen wäre, der nicht an die späteren Schwierigkeiten denkt, die ihm daraus entstehen würden.

Pilatus ist nicht wirklich gut. Gut ist Longinus, der, obwohl nicht so mächtig wie der Prätor und weniger geschützt, mitten auf dem Weg, von nur wenigen Soldaten, aber von einer großen feindseligen Menge umgeben, es wagt, mich zu verteidigen. Er hilft mir, gestattet mir eine Ruhepause, gönnt mir den Trost der frommen Frauen, läßt mir durch den Cyrenäer helfen und erlaubt schließlich meiner Mutter, am Fuß des Kreuzes bei mir zu stehen. Er war ein Held der Gerechtigkeit und wurde deshalb ein Held des Christus.

Wißt, o Menschen, die ihr euch einzig und allein um euer materielles Wohl sorgt, dass Gott euch auch hier zu Hilfe kommt, wenn er sieht, dass ihr in der Gerechtigkeit verharrt, die ein Ausfluß Gottes ist. Ich belohne immer den, der rechtschaffen handelt. Ich verteidige den, der mich verteidigt. Ich liebe ihn und helfe ihm. Ich bin immer noch der, der gesagt hat: „Wer einen Becher Wasser in meinem Namen reicht, wird seinen Lohn erhalten.“ Wer mir Liebe schenkt, Wasser, dass meinen Durst als göttlicher Märtyrer stillt, dem gebe ich mich selbst, also Schutz und Segen.»

JUDAS VON KERIOTH NACH SEINEM VERRAT

31.3.44, Karfreitag, 2 Uhr früh.

Hier ist die schmerzliche Vision dieser ersten Stunden des Karfreitags, die ich gehabt habe, als ich die Stunde der Schmerzensmutter hielt. Ich hatte mir gedacht, die beste Vorbereitung auf die Ablegung des Gelübdes bestehe darin, die Nacht in Gesellschaft der Jungfrau der Sieben Schmerzen zu verbringen.

Ich sehe Judas. Er ist allein. Er trägt ein hellgelbes Gewand mit einer roten Kordel als Gürtel. Meine innere Stimme sagt mir, dass Jesus kurz zuvor gefangengenommen wurde und dass Judas, der gleich nach der Gefangennahme geflohen ist, sich nun in einem inneren Zwiespalt befindet. Tatsächlich gleicht Judas einem rasenden, von einer Meute Bluthunde verfolgten wilden Tier. Jedes Seufzen des Windes in den Zweigen, jedes geringste Geräusch auf den Wegen und selbst das Plätschern eines Brünnleins läßt ihn aufhorchen und sich mißtrauisch und erschrocken umwenden, so als wäre ihm der Scharfrichter schon auf den Fersen. Er dreht den gesenkten Kopf auf dem eingezogenen Hals nach allen Seiten, schaut in alle Richtungen wie einer, der sehen will und sich doch fürchtet zu sehen, und wenn das Spiel des Mondlichts einen menschenähnlichen Schatten erzeugt, bedeckt er die Augen, macht einen Sprung zurück, wird noch bleicher als er schon ist, bleibt einen Augenblick stehen und flieht dann überstürzt zurück und schlägt einen anderen Weg ein, bis ein neues Geräusch, ein neues Lichtspiel ihn schreckt und ihn wieder in eine andere Richtung fliehen läßt.

Bei diesem irren Hin und Her gelangt er ins Stadtinnere. Aber das Lärmen einer Volksmenge läßt ihn erkennen, dass er nahe beim Haus des Kaiphas ist. Da faßt er sich mit den Händen an den Kopf, duckt sich, als ob diese Schreie ebenso viele Steine wären, die ihn treffen, und flieht, flieht. Auf der Flucht gerät er in ein Gäßchen, dass geradewegs zu dem Haus führt, in dem sie das Abendmahl gehalten haben. Er bemerkt es, als er davorsteht, denn ein Brünnlein plätschert an dieser Stelle der Straße. Das Weinen des tropfenden Wassers, dass in das kleine Steinbecken fällt, und das leise Pfeifen des Windes, der durch die enge Gasse weht, hören sich an wie eine gedämpfte Klage, müssen ihm vorkommen wie das Weinen des Verratenen und die Klagen des Gemarterten. Judas hält sich die Ohren zu, um nichts zu hören, und hetzt mit geschlossenen Augen weiter, um die Tür nicht zu sehen, durch die er erst vor einigen Stunden mit dem Meister gegangen ist und durch die er sich auch entfernt hat, um die Bewaffneten für seine Gefangennahme zu holen.

Als er so blindlings weiterläuft, stößt er mit einem streunenden Hund zusammen – der erste Hund, den ich sehe, seit ich die Visionen habe. Es ist ein großer, grauer, struppiger Hund, der knurrend ausweicht und dann überlegt, ob er sich auf den Ruhestörer stürzen soll. Judas öffnet die Augen und sieht sich diesen phosphoreszierenden Augen gegenüber, die ihn anschauen. Er sieht das Weiß der Zähne, die ihn teuflisch anzugrinsen scheinen. Er stößt einen Schrei aus. Der Hund, der das vielleicht für eine Drohung hält, greift ihn an, und die beiden wälzen sich im Staub: Judas, den die Angst lähmt, unten, der Hund oben. Als das Tier seine Beute losläßt, die ihm wohl eines Kampfes unwürdig erscheint, blutet Judas aus einigen Wunden und in seinem Mantel sind große Risse.

Ein Biß hat seine Wange verletzt, genau an der Stelle, wo er Jesus geküßt hat. Die Wange blutet, und das Blut befleckt das gelbliche Gewand des Judas am Hals. Es bildet sozusagen ein blutiges Halsband, da es die rote Kordel tränkt, die das Gewand am Hals zusammenhält, und sie noch röter macht. Judas legt eine Hand auf die Wange, schaut dem Hund nach, der davongetrottet, aber unter einem Torbogen stehengeblieben ist und ihn beobachtet, und murmelt: «Beelzebub!» Dann flieht er mit einem erneuten Schrei, und der Hund folgt ihm noch eine Weile. Er folgt ihm bis zum Brückchen beim Gethsemane. Hier, vielleicht weil er müde ist, vielleicht weil er wasserscheu ist und das Wasser ihn verscheucht, gibt der Hund die Verfolgung auf und macht knurrend kehrt. Judas, der in den Bach gesprungen ist, um Steine zu holen und den Hund damit zu vertreiben, sieht, dass der Hund sich entfernt, blickt um sich und findet sich bis zu halber Wadenhöhe im Wasser. Ohne sich um das Gewand zu kümmern, dass sich immer mehr vollsaugt, beugt er sich zum Wasser hinunter und trinkt gierig wie im Fieber und wäscht sich die blutende Wange, die ihn schmerzen muss. Beim ersten Morgengrauen steigt er aus dem Bachbett, auf der entgegengesetzten Seite, so als hätte er Angst vor dem Hund und getraue sich nicht in die Stadt zurück.

Er geht einige Meter und befindet sich am Eingang des Ölgartens. «Nein, nein!» schreit er, als er den Platz wiedererkennt. Aber dann, und ich weiß nicht, welche unwiderstehliche Kraft oder welcher teuflische Sadismus ihn zieht, geht er weiter. Er sucht den Ort der Gefangennahme. Die von vielen Füßen aufgewühlte Erde des Pfades, dass zertretene Gras an einer bestimmten Stelle und die Blutspuren auf dem Boden, vielleicht von Malchus, zeigen ihm an, dass er hier den Unschuldigen seinen Schergen übergeben hat.

Er schaut und schaut ... dann stößt er einen heiseren Schrei aus und springt zurück. Er schreit: «Dieses Blut, dieses Blut...!» und zeigt es... -wem? – mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger. Im zunehmenden Licht erscheint sein Gesicht fahl und gespenstisch. Er gleicht einem Verrückten. Seine Augen sind aufgerissen und glänzend, wie im Delirium. Die vom Laufen und vom Schrecken zerzausten Haare scheinen sich ihm zu sträuben, und die Wange, die langsam anschwillt, verzieht seinen Mund zu einem Grinsen. In seinem zerrissenen, blutbesudelten, nassen und schmutzigen Gewand – denn der Staub hat sich durch die Nässe in Schlamm verwandelt – gleicht er einem Bettler. Der ebenfalls schmutzige und zerrissene Mantel hängt ihm in Fetzen von den Schultern, und er stolpert darüber, während er immer noch schreit: «Dieses Blut, dieses Blut!» Er weicht zurück, als würde das Blut zum Meer, dessen Flut steigt und in dem er ertrinkt. Judas fällt rückwärts und verletzt sich den Kopf, den Hinterkopf, an einem Stein. Er stöhnt vor Schmerz und Angst. «Wer ist da?» schreit er. Er muss glauben, jemand habe ihn umgestoßen, um ihn zu verletzen. Er dreht sich voll Entsetzen um. Niemand. Er steht auf. Nun tropft das Blut auch auf den Nacken. Der rote Kreis breitet sich auf dem Gewand aus. Das Blut fällt nicht zur Erde, denn es ist wenig und wird von seinem Gewand aufgesaugt. Nun scheint sich die rote Schlinge schon um seinen Hals zu legen.

Er geht weiter und findet die Reste des kleinen Feuers, dass Petrus am Fuß eines Ölbaums entzündet hat. Aber er weiß nicht, dass es Petrus war und glaubt, Jesus sei hier gewesen. Er schreit: «Fort, fort!» und streckt beide Arme aus, als wolle er ein Gespenst, dass ihn quält, abwehren. Er läuft davon und kommt genau an den Fels der Todesangst.

Nun ist der Tag bereits angebrochen, und man kann alles sofort und genau erkennen. Judas sieht den Mantel Jesu zusammengefaltet auf dem Felsen liegen. Er erkennt ihn. Er will ihn anfassen, hat aber Angst. Er streckt die Hand aus und zieht sie wieder zurück. Er will, will nicht. Dieser Mantel fasziniert ihn. Er stöhnt: «Nein, nein.» Dann sagt er: «Ja, zum Teufel! Ja, ich will ihn berühren. Ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst!» Er sagt, er hat keine Angst, aber seine Zähne klappern vor Schrecken, und als über seinem Kopf ein Ast eines Ölbaumes im Wind gegen einen Stamm schlägt, schreit er wieder auf. Dennoch zwingt er sich und ergreift den Mantel. Und lacht. Er lacht wie ein Irrer, ein Dämon. Ein hysterisches, stoßweises finsteres Lachen, dass kein Ende nimmt, denn er hat seine Angst überwunden. Und er sagt es: «Du machst mir keine Angst mehr, Christus, nicht mehr. Ich hatte so große Angst vor dir, da ich an dich als einen Gott, einen starken Gott, glaubte. Nun machst du mir keine Angst mehr, denn du bist kein Gott. Du bist ein armer Irrer, ein Schwächling. Du konntest dich nicht verteidigen. Du hast mich nicht zerschmettert, wie du auch den Verrat in meinem Herzen nicht gelesen hast. Meine Ängste! ... Ich Dummkopf! Noch gestern abend, als du sprachst, glaubte ich, du wüßtest alles. Nichts hast du gewußt. Es war meine Angst, die deinen gewöhnlichen Worten das Gewicht von Prophezeiungen verlieh. Du bist ein Nichts. Du hast dich verkaufen, anzeigen und wie eine Maus in ihrem Loch fangen lassen. Deine Macht! Deine Herkunft! Ha, ha, ha, du Narr! Satan ist der Mächtige! Stärker als du! Er hat dich besiegt! Ha, ha, ha! Der Prophet! Der Messias! Der König Israels! Und drei Jahre hast du mich unterjocht! Immer mit der Angst im Herzen! Ich musste lügen, um dich geschickt zu täuschen, wo ich doch das Leben genießen wollte! Aber selbst wenn ich ohne all die angewendete List gestohlen und Unzucht getrieben hätte, du hättest mir nichts tun können. Du Schwächling! Du Narr! Du Feigling! So! So! So! Ich hätte mit dir tun sollen, was ich nun mit deinem Mantel tue, um mich für die Zeit zu rächen, die du mich als einen Sklaven der Angst gehalten hast. Angst vor einem Hasen! ... So! So! So!»

Bei jedem «So!» beißt Judas in den Mantel Jesu und versucht, ihn zu zerreißen. Er zerdrückt ihn in den Händen. Aber dabei faltet er ihn etwas auseinander und die nassen Flecken kommen zur Vorschein. Judas hält in seinem Wüten inne. Er starrt auf die Flecken, berührt sie, riecht an ihnen. Es ist Blut... Er faltet den Mantel ganz auseinander. Der Abdruck der beiden blutigen Hände, mit denen Jesus den Stoff auf sein Gesicht gedrückt hat, ist deutlich zu sehen.

«Ach... Blut! Blut! Sein Blut! ... Nein!» Judas läßt den Mantel fallen und schaut sich um. Auch auf dem Felsen, an den Jesus sich mit dem Rücken gelehnt hatte, als der Engel ihn tröstete, ist ein dunkler Fleck trockenen Blutes. «Dort! ... Dort! ... Blut! Blut! ...» Er senkt den Blick, um nichts zu sehen, und sieht das ganz von Blut gerötete Gras. Dieses Blut, dass durch den Tau noch naß ist, scheint eben erst heruntergetropft zu sein. Es ist rot und glänzt im ersten Sonnenschein. «Nein! Nein! Nein! Ich will es nicht sehen! Ich kann dieses Blut nicht sehen! Hilfe!» Er fährt sich mit den Händen an den Hals und keucht, als ob er in einem Meer von Blut ersticken würde. «Zurück! Zurück! Laß mich! Laß mich, Verfluchter! Aber dieses Blut ist ein Meer! Es bedeckt die ganze Erde! Die ganze Erde! Die ganze Erde! Auf der Welt ist kein Platz mehr für mich, denn ich kann dieses Blut nicht sehen, dass sie bedeckt! Ich bin der Kain des Unschuldigen!» Ich glaube, dass der Gedanke an Selbstmord ihm in diesem Augenblick gekommen ist.

Das Gesicht des Judas ist furchterregend. Er springt den Hang hinunter, flieht wie ein von wilden Bestien Verfolgter aus dem Ölgarten, auf einem anderen Weg als dem, auf dem er gekommen ist, und kehrt in die Stadt zurück. So gut es geht wickelt er sich in seinen Mantel, versucht, die Verletzung und sein Gesicht einigermaßen zu bedecken, und läuft zum Tempel hinauf. Aber als er sich dem Gewölbe nähert, stößt er auf den Pöbel, der Jesus zu Pilatus schleppt. Ausweichen kann er nicht mehr, denn eine andere Menschenmenge, die hinter ihm herbeiläuft, um etwas zu sehen, keilt ihn ein. Und da er groß ist, größer als die meisten, kann er nicht umhin zu sehen. Und begegnet dem Blick Christi...

Einen Augenblick schauen sie sich an. Dann geht Jesus weiter, gefesselt und geschlagen. Judas fällt wie ohnmächtig auf den Rücken. Die Leute treten ihn erbarmungslos, und er wehrt sich nicht. Er scheint es vorzuziehen, von allen getreten zu werden, als diesen Blick ertragen zu müssen.

Nachdem die gottesmörderische Meute mit dem Märtyrer vorübergezogen und die Straße wieder leer ist, steht er auf und eilt zum Tempel. Am Tor des Tempelbezirks stößt er mit einem Wächter zusammen und wirft ihn beinahe um. Andere Wachen eilen herbei, um dem Rasenden den Eintritt zu verwehren. Aber wie ein wütender Stier schlägt er sie alle in die Flucht. Einen, der ihn umklammert und ihn hindern will, den Saal des Synedriums zu betreten, in dem noch alle versammelt sind und diskutieren, packt er am Hals, würgt ihn und schleudert ihn, wenn nicht tot, so doch sicher sterbend, drei Stufen hinunter.

«Euer Geld, ihr Verfluchten, will ich nicht!» schreit Judas und steht dabei mitten im Saal, genau an der Stelle, wo noch vor kurzem Jesus gestanden ist. Er gleicht einem Dämon der Hölle. Blutig, rasend, mit wirrem Haar, Schaum vor dem Mund und Händen wie Klauen schreit er, bellt fast, so rauh, heiser und heulend ist seine Stimme. «Euer Geld, ihr Verfluchten, will ich nicht. Ihr seid mein Verderben. Ihr habt mich die größte Sünde begehen lassen. Wie ihr, wie ihr bin ich nun verflucht. Ich habe unschuldiges Blut verraten. Dieses Blut und mein Tod mögen über euch kommen. Über euch... Nein! Ach! ...» Judas sieht den blutbefleckten Boden. «Auch hier, auch hier Blut! Überall Blut! Überall sein Blut! Ach, wieviel Blut hat das Lamm Gottes, dass es ohne zu sterben die Erde damit bedecken kann. Und ich habe es vergossen! Ihr habt mich dazu angestiftet! Ihr Verfluchten! Ihr Verfluchten! Ihr auf ewig Verfluchten! Verflucht seien diese Mauern! Verflucht dieser geschändete Tempel! Verflucht der gottesmörderische Hohepriester! Verflucht seien die unwürdigen Priester, die falschen Gelehrten, die heuchlerischen Pharisäer, die grausamen Juden, die arglistigen Schriftgelehrten! Fluch auch über mich! Über mich

Fluch! Über mich! Nehmt euer Geld, und möge es euch die Seele im Leib erwürgen wie mich der Strick!» Judas wirft Kaiphas den Beutel ins Gesicht und läuft heulend fort, während die Münzen klingend über den Boden springen, nachdem sie den Mund des Hohenpriesters blutig geschlagen haben.

Niemand wagt es, ihn aufzuhalten. Er läuft hinaus, irrt durch die Straßen. Und das Schicksal will es, dass er Jesus noch zweimal begegnet, der von Herodes kommt und zu Herodes geführt wird. Schließlich verläßt er die Stadtmitte und verliert sich in ärmlichen Gassen, bis er plötzlich wieder vor dem Haus des Abendmahles steht, dass ganz verschlossen ist und völlig verlassen erscheint.

Judas bleibt stehen und schaut es an. «Die Mutter!» flüstert er. «Die Mutter...!» und bleibt unschlüssig stehen... «Auch ich habe eine Mutter! Und ich habe den Sohn einer Mutter getötet! ... Und doch... Ich will hineingehen... den Raum noch einmal sehen. Dort ist kein Blut...» Er klopft an die Tür. Noch einmal... und noch einmal... Die Hausfrau kommt und öffnet die Tür ein Stückchen. Einen Spalt... Doch als sie den verstörten, unkenntlichen Mann sieht, schreit sie auf und versucht die Tür wieder zu schließen. Aber Judas stößt die Tür mit der Schulter auf, schiebt die bestürzte Frau beiseite und betritt das Haus.

Er eilt zu dem Pförtchen, dass in den Abendmahlsaal führt, öffnet es und geht hinein. Eine herrliche Sonne dringt durch die offenen Fenster. Judas atmet erleichtert auf und geht etwas weiter. Hier ist alles ruhig und schweigsam. Das Geschirr steht noch auf dem Tisch, wie sie es stehengelassen haben. Man sieht, dass sich bis jetzt niemand darum gekümmert hat. Man könnte meinen, dass man im Begriff ist, sich zu Tisch zu setzen.

Judas geht zum Tisch. Er sieht nach, ob noch Wein in den Krügen ist. Es ist noch ein wenig darin. Er trinkt gierig gleich aus dem Krug, den er mit beiden Händen hochhebt. Dann läßt er sich auf einen Sitz sinken und legt den Kopf auf die auf dem Tisch gekreuzten Arme. Er bemerkt nicht, dass er an dem Platz Jesu sitzt und dass vor ihm der für die Eucharistie benützte Kelch steht. Einige Zeit bleibt er so sitzen, bis sich sein vom Laufen keuchender Atem beruhigt. Dann hebt er den Kopf und sieht den Kelch. Und merkt, wohin er sich gesetzt hat.

Wie besessen springt er auf. Doch der Kelch fasziniert ihn. Ein wenig Rotwein ist noch auf dem Grund, und die Sonnenstrahlen, die das silberglänzende Metall treffen, entzünden diese Flüssigkeit. «Blut! Blut! Auch hier Blut! Sein Blut! Sein Blut!... „Tut dies zu meinem Gedächtnis! ... Nehmt und trinkt... Dies ist mein Blut... Das Blut des neuen Bundes, dass für euch vergossen wird...“ Ach, ich Verfluchter! Für mich kann es nicht mehr vergossen werden zur Vergebung meiner Sünde. Ich bitte nicht um Vergebung, denn er kann mir nicht verzeihen. Fort! Fort! Es gibt keinen Ort mehr, wo der Kain Gottes Ruhe finden könnte. Der Tod! Nur der Tod...»

Judas geht hinaus und sieht sich Maria gegenüber, die aufrecht an der Tür des Raumes steht, in dem Jesus sich von ihr verabschiedet hat. Sie hat ein Geräusch gehört und herausgeschaut, vielleicht in der Hoffnung, Johannes zu sehen, der seit so vielen Stunden abwesend ist. Sie ist so blaß, als wäre sie völlig ausgeblutet. Der Schmerz verleiht ihren Augen noch mehr Ähnlichkeit mit denen ihres Sohnes. Judas begegnet dem Blick dieser Augen, die ihn anschauen mit derselben wissenden und betrübten Kenntnis, mit der Jesus ihn auf dem Weg angeschaut hat. Mit einem ängstlichen «Oh!» weicht er an die Mauer zurück.

«Judas» sagt Maria, «Judas, wozu bist du gekommen?» Dieselben Worte, die Jesus gesagt, und mit schmerzerfüllter Liebe gesagt hat. Judas erinnert sich daran und schreit auf.

«Judas», fährt Maria fort, «was hast du getan? Auf so viel Liebe hast du mit Verrat geantwortet.» Die Stimme Marias ist eine zitternde Liebkosung.

Judas will fliehen. Maria ruft ihn mit einer Stimme, die einen Dämon bekehren würde. «Judas! Judas! Bleib! Warte! Höre! Ich sage dir in seinem Namen: Bereue, Judas! Er verzeiht ...» Judas ist fortgelaufen. Die Stimme Marias und ihr Anblick sind der Anruf der Gnade, die ihm zur Ungnade wird, da er ihr widersteht.

Er stürzt davon und begegnet Johannes, der gerade zum Haus eilt, um Maria abzuholen. Das Urteil ist gesprochen. Jesus ist im Begriff, den Kalvarienberg hinaufzusteigen. Es ist Zeit, dass die Mutter zu ihrem Sohn geführt wird. Johannes erkennt Judas, obgleich von dem schönen Judas von früher wenig übriggeblieben ist. «Du hier?» fragt Johannes mit offensichtlichem Abscheu. «Du hier? Fluch über dich, du Mörder des Sohnes Gottes! Der Meister ist verurteilt worden. Freue dich, wenn du kannst. Aber gib den Weg frei. Ich gehe und hole die Mutter, und sie, dein zweites Opfer, soll dir, du Schlange, nicht begegnen.»

Judas flieht. Er hat seinen Kopf in die Fetzen seines Mantels gehüllt und nur für die Augen einen Spalt freigelassen. Die Leute, die wenigen Leute, die nicht beim Prätorium sind, weichen ihm wie einem Irren aus. Und er gleicht auch einem Irren.

Er irrt über die Felder. Ab und zu trägt ihm der Wind ein Echo der lärmenden Menge zu, die Jesus unter Verwünschungen folgt. Jedesmal, wenn Judas ein solches Echo hört, heult er auf wie ein Schakal.

Ich nehme an, dass er wirklich den Verstand verloren hat, denn er schlägt den Kopf rhythmisch gegen die Steinmauern. Oder er ist tollwütig geworden; denn jedesmal, wenn er eine Flüssigkeit sieht, sei es nun Wasser oder Milch, die ein Kind in einem Gefäß trägt, oder Öl, dass aus einem Schlauch tropft, dann schreit er, schreit und brüllt. «Blut! Blut! Sein Blut!»

Er will an den Bächlein und Brunnen trinken. Aber er kann nicht, denn das Wasser scheint ihm Blut zu sein, und er sagt es auch: «Es ist Blut! Es ist Blut! Es ertränkt mich! Es verbrennt mich! Ich habe Feuer in mir! Sein Blut, dass er mir gestern gegeben hat, ist in mir zu Feuer geworden! Fluch über mich und über dich!»

Er geht die Hügel hinauf und hinunter, die Jerusalem umgeben. Sein Blick wird unwiderstehlich von Golgotha angezogen. Zweimal sieht er von weitem den Zug, der sich den Hang hinaufbewegt. Er schaut und schreit.

Nun ist er auf dem Gipfel angekommen. Auch Judas ist oben auf einem kleinen Hügel voller Ölbäume. Er hat ein rustikales Pförtchen geöffnet, um dorthin zu gelangen, so als ob er der Besitzer des Gartens wäre oder sich zumindest gut auskennen würde. Ich hatte schon früher den Eindruck, dass Judas fremdes Eigentum sehr wenig achtet. Steif steht er unter einem Ölbaum am Rand eines Steilhanges und schaut nach Golgotha hinüber. Er sieht, wie die Kreuze aufgerichtet werden und begreift, dass Jesus nun gekreuzigt ist. Er kann es nicht sehen und nicht hören. Aber das Delirium oder ein Zauber Satans lassen ihn alles sehen und hören, als wäre er auf dem Gipfel des Kalvarienbergs.

Er schaut, schaut als hätte er eine Halluzination. Er schlägt um sich: «Nein! Nein! Sieh mich nicht an! Sprich nicht zu mir! Ich ertrage es nicht! Stirb, stirb, du Verfluchter! Möge der Tod dir die Augen verschließen, die mir Furcht einflößen, und diesen Mund, der mich verflucht! Aber auch ich verfluche dich. Weil du mich nicht gerettet hast.»

Sein Gesicht ist so verwüstet, dass man es nicht mehr ansehen kann. Speichel rinnt ihm aus dem schreienden Mund. Die verletzte Wange ist blau und geschwollen und verzerrt das Gesicht. Das verklebte Haar und der sehr dunkle, in diesen Stunden gewachsene Bart umschatten düster Wangen und Kinn. Und die Augen! ... Sie rollen, verdrehen sich und sprühen – ein wahrer Dämon! Er reißt die dreimal herumgewickelte Kordel aus dicker roter Wolle von seiner Taille und prüft ihre Festigkeit, indem er sie um einen Ölbaum schlingt und mit aller Kraft daran zieht. Sie hält stand, ist stark. Er wählt einen für sein Vorhaben geeigneten Ölbaum. Dieser hier, dessen zerzauste Krone über den Hang hinaushängt, ist der richtige. Er steigt auf den Baum und befestigt ein Ende des Strickes am stärksten, ins Leere ragenden Ast. Die Schlinge hat er schon gemacht. Ein letztes Mal schaut er nach Golgotha, dann steckt er den Kopf in die Schlinge. Nun scheint er zwei rote Halsbänder an der Halswurzel zu haben. Er setzt sich auf den Vorsprung. Und plötzlich läßt er sich ins Leere fallen.

Die Schlinge zieht sich zusammen und würgt ihn. Eine Weile schlägt er um sich, dann verdreht er die Augen, wird schwarz im Gesicht, erstickt, öffnet den Mund. Die Adern am Hals schwellen an und werden schwarz. In seinen letzten Zuckungen tritt er noch vier- fünfmal in die Luft. Dann öffnet sich der Mund, die dunkle, schleimige Zunge hängt heraus und die offenen, blutunterlaufenen Augen quellen hervor. Die Iris verschwindet nach oben. Er ist tot. Der starke Wind, der sich vor dem Sturm erhoben hat, schaukelt das makabere Pendel und läßt es kreisen, wie eine scheußliche Spinne am Faden ihres Netzes.

Die Vision endet so. Und ich hoffe, dass ich all dies bald vergessen werde, denn ich versichere Ihnen, es war eine schreckliche Vision.

«WENN JUDAS SICH DER MUTTER ZU FÜSSEN GEWORFEN UND UM ERBARMEN GEFLEHT HÄTTE, DANN HÄTTE DIE BARMHERZIGE IHN WIE EINEN VERWUNDETEN AUFGEHOBEN»

Jesus sagt:

«Schrecklich, aber nicht unnütz. Zu viele glauben, Judas habe nichts besonders Schlimmes getan. Einige gehen sogar so weit zu sagen, er habe sich Verdienste erworben, denn ohne ihn sei die Erlösung nicht möglich gewesen und daher sei er vor Gott gerechtfertigt.

In Wahrheit sage ich euch, hätte es die Hölle noch nicht gegeben, wäre sie nicht vollendet gewesen mit allen ihren Qualen, so wäre sie für Judas noch furchtbarer und ewig geschaffen worden; denn von allen Sündern und Verdammten ist er der größte Sünder und der am tiefsten Verdammte, und für ihn wird es in Ewigkeit keine Milderung der Strafe geben.'

Die Gewissensbisse hätten ihn sogar retten können, wenn aus den Gewissensbissen Reue geworden wäre. Aber er wollte nicht bereuen, und zum ersten Verbrechen, dem Verrat – den ich in meiner Barmherzigkeit, die meine liebevolle Schwäche ist, noch verziehen hätte – kamen Gotteslästerung und Widerstand gegen die Stimme der Gnade, die zu ihm sprechen wollte durch die Erinnerungen, die Schrecken, durch mein Blut und meinen Mantel, durch die Überreste der Einsetzung der Eucharistie, durch die Worte meiner Mutter. Er hat allem widerstanden. Er wollte widerstehen. Wie er auch verraten wollte. Wie er verfluchen wollte. Wie

' «Und für ihn wird es in Ewigkeit keine Milderung der Strafe geben» bezieht sich direkt und ausdrücklich nur auf Judas, den Verräter des göttlichen Meisters. Das Werk spricht sich nicht klar hinsichtlich aller anderen Verdammten in der Hölle aus. Aber selbst wenn es zu verstehen geben wollte, dass die ewigen Leiden der übrigen Verdammten oder mancher Verdammter aus irgendwelchen Gründen oder unter irgendwelchen Umständen durch die Barmherzigkeit Gottes gemildert werden, könnte man es nicht der Häresie beschuldigen. Wenn auch bis heute viele bedeutende Theologen der Auffassung von einer Milderung der Leiden der Verdammten ablehnend gegenüberstehen, fehlt es doch auch nicht an anderen, die sie befürworten, er Selbstmord begehen wollte. Und es ist der Wille, der bei allem zählt, im Guten wie im Bösen.

Wenn einer fällt, ohne den Willen zu fallen, verzeihe ich ihm. Petrus ist ein Beispiel. Er hat mich verleugnet. Warum? Er wußte es selbst nicht genau. War Petrus feige? Nein, mein Petrus war kein Feigling. In Gegenwart der Kohorte und der Tempelwachen hat er es gewagt, Malchus zu verletzen, um mich zu verteidigen, und sich so der Gefahr ausgesetzt, dafür umgebracht zu werden. Er ist dann geflohen, ohne es zu wollen. Danach hat er mich verleugnet, ohne es zu wollen. Später aber hat er es sehr wohl fertiggebracht, auf dem blutigen Weg des Kreuzes, meinem Weg, zu bleiben und fortzuschreiten, bis zu seinem Kreuzestod. Und sehr gut hat er es verstanden, Zeugnis von mir abzulegen, bis man ihn wegen seines unerschrockenen Glaubensbekenntnisses tötete. Ich verteidige meinen Petrus. Die Verleugnung seines Herrn ist die letzte Verwirrung seiner Menschlichkeit gewesen. Doch der Wille des Geistes war in diesem Augenblick nicht gegeben. Abgestumpft durch die Last des Menschlichen schlief er. Als er wieder erwachte, wollte er nicht länger in der Sünde verharren, sondern vollkommen werden. Ich habe ihm sofort verziehen.

Judas wollte nicht. Du sagst, dass er wahnsinnig und tollwütig zu sein schien. Er war es in seiner satanischen Wut. Sein Schrecken beim Anblick des Hundes, ein sehr seltenes Tier, besonders in Jerusalem, rührte daher, dass man seit undenklichen Zeiten glaubte, der Teufel würde den Menschen in dieser Gestalt erscheinen. In den Büchern über Zauberei heißt es noch heute, dass Satan den Menschen vorzugsweise in Gestalt eines geheimnisvollen Hundes, einer Katze oder eines Bockes erscheint. Judas, den schon das Entsetzen über sein Verbrechen gepackt hatte und der glaubte, wegen dieses Verbrechens dem Satan anzugehören, sah in dem streunenden Hund Satan.

Wer schuldig ist, sieht überall furchterregende Schatten. Satan benützt diese Schatten, die das Herz noch zur Reue führen könnten, und verwandelt sie in Schreckgespenster, die zur Verzweiflung treiben. Und die Verzweiflung führt zum letzten Verbrechen: zum Selbstmord. Warum den Preis des Verrats wegwerfen, wenn diese Entäußerung nur eine Frucht des Zornes und nicht mit einem redlichen Willen zur Reue verbunden ist? Nur dann ist es verdienstvoll, sich der Früchte des Bösen zu entäußern. So wie er es gemacht hat nicht, so war es ein unnützes Opfer.

Meine Mutter – und sie war die Gnade, die sprach, und meine Schatzmeisterin, die in meinem Namen Vergebung schenkte – sagte es ihm: „Bereue, Judas. Er verzeiht...“ Oh, und ob ich ihm verziehen hätte! Wenn er sich der Mutter zu Füßen geworfen und gefleht hätte: „Erbarmen“ ' hätte sie, die Barmherzige, ihn wie einen Verwundeten aufgehoben und seine satanischen Wunden, durch die der Feind ihm das Verbrechen eingeimpft hatte, mit ihren rettenden Tränen gewaschen; sie hätte ihn zu mir an den Fuß des Kreuzes gebracht, sie hätte ihn an der Hand gehalten, damit Satan ihn nicht packen und die Jünger ihn nicht erschlagen könnten, sie hätte ihn gebracht, und mein Blut wäre zuerst auf ihn, auf den größten aller Sünder gefallen. Und sie wäre die wunderbare Priesterin an ihrem Altar zwischen der Reinheit und der Schuld gewesen; denn sie ist die Mutter der Jungfräulichen und der Heiligen, aber auch die Mutter der Sünder.

Aber er wollte nicht. Denkt nach über die Macht eures Willens, dessen unumschränkter Herr ihr seid. Durch ihn könnt ihr in den Himmel oder in die Hölle kommen. Denkt darüber nach, was es heißt, in der Sünde zu verharren.

Der Gekreuzigte, der mit ausgebreiteten Armen angenagelt ist, um euch zu sagen, dass er euch liebt, und der euch nicht schlagen will, nicht schlagen kann, weil er euch liebt; der es sich lieber versagt, euch zu umarmen – der einzige Schmerz der Annagelung – als dass er die Freiheit behält, euch zu strafen; der Gekreuzigte, der Gegenstand göttlicher Hoffnung für alle, die bereuen, die sich von der Sünde lossagen wollen, wird für die Unbußfertigen zum Gegenstand so großen Schreckens, dass sie Gott lästern und sich selbst Gewalt antun. Sie töten ihren Geist und ihren Leib, weil sie in der Schuld verharren. Und der Sanftmütige, der sich, in der Hoffnung sie zu retten, geopfert hat, erscheint ihnen wie ein Schreckgespenst.

Maria, du hast dich über diese Vision beklagt. Aber es ist Karfreitag, Tochter. Du musst leiden. Zu den Leiden wegen meiner und Marias Leiden musst du deine Bitterkeit, deinen Schmerz über den Anblick der Sünder, die Sünder bleiben wollen, hinzufügen. Dies war unser Schmerz. Es muss auch der deine sein. Deshalb hat Maria gelitten und leidet sie noch immer, ebenso wie wegen meiner Qualen. Und deshalb musst auch du das ertragen. Nun ruhe dich aus. In drei Stunden wirst du ganz mir und Maria angehören. Ich segne dich, Veilchen meiner Passion und Passionsblume Marias.»

«MARIA MUSS EVA ANNULLIEREN»

Jesus sagt:

«Das Paar Jesus-Maria ist das Gegenstück zu dem Paar Adam-Eva und dazu bestimmt, dass von Adam und Eva Angerichtete zu annullieren und die Menschheit zu dem Zustand zurückzuführen, in dem sie sich bei der Erschaffung befand. Die Menschheit hat eine totale Erneuerung erfahren durch das Werk des Paares Jesus-Maria, die so die neuen Stammeltern der Menschheit wurden. Die gesamte vorhergehende Zeit ist nun gegenstandslos. Die Zeit und die Geschichte des Menschen zählt man von dem Augenblick an, in dem die neue Eva durch eine Ausnahme in der Schöpfungsordnung, einen direkten Eingriff Gottes des Herrn, aus ihrem unversehrten Schoß den neuen Adam gebiert.

Aber um die Werke der ersten Menschen zu tilgen, die Ursache tödlicher Krankheit, immerwährender Verstümmelung, Verarmung, mehr noch, geistigen Elends waren – denn nach der Sünde waren Adam und Eva bar alles dessen, was ihnen der heiligste Vater gegeben hatte, all der unendlichen Reichtümer – mussten diese beiden Zweiten in allem und durch alles das Gegenteil von dem tun, was die beiden Ersten getan hatten. Sie mussten also den Gehorsam üben bis zur Vollkommenheit, die sich selbst vernichtet und Fleisch, Gefühle, Gedanken und Willen opfert, um alles anzunehmen, was Gott will. Deshalb musste ihre Reinheit eine absolute Keuschheit sein, für die das Fleisch... Was war das Fleisch für uns zwei Reine? Ein Wasserschleier über dem siegreichen Geist; Liebkosungen des Windes für den Geist, den König; ein Kristall, der den Geist und Herrn einschließt, aber ihn nicht verdirbt, ein Impuls, der emporträgt und nicht durch sein Gewicht zu Boden drückt. Das war das Fleisch für uns. Leichter und weniger spürbar als ein Linnengewand! Die leichte Substanz zwischen der Welt und dem Glanz des übermenschlichen Selbst, dass Mittel, um tun zu können, was Gott wollte. Nichts anderes.

Haben wir die Liebe besessen? Ja, die vollkommene Liebe. Ihr Menschen, der Hunger der Sinne, der euch treibt, euch gierig an einem Fleisch zu sättigen, ist nicht Liebe. Es ist Wollust. Nicht mehr. Das ist sehr wahr, denn obwohl ihr euch so liebt – ihr glaubt, es sei Liebe – könnt ihr nicht miteinander fühlen, einander nicht helfen und nicht verzeihen. Was ist also eure Liebe? Sie ist Haß. Einzig und allein ein irrer Wahn, der euch treibt, den Geschmack verdorbener Speisen der gesunden, kraftspendenden Nahrung der erhabenen Gefühle vorzuziehen. Wir hatten die „vollkommene Liebe“. Wir, die vollkommen Keuschen. Diese Liebe umfaßte Gott im Himmel, und vereint mit ihm, wie die Zweige mit dem Stamm, der sie nährt, breitete sie sich aus und stieg, Ruhe, Schutz, Nahrung und Trost schenkend, auf die Erde und ihre Bewohner herab. Niemand war von dieser Liebe ausgeschlossen. Nicht unseresgleichen, nicht die niedrigen Geschöpfe, nicht die pflanzliche Natur, nicht die Wasser und die Sterne. Nicht einmal die Bösen waren von unserer Liebe ausgeschlossen; denn auch sie, obgleich tote Glieder, waren dennoch Glieder des großen Leibes der Schöpfung, und deshalb sahen wir in ihnen, wenn auch entstellt und von Bosheit verunstaltet, dass heilige Abbild des Herrn, der sie nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hatte.

Wir haben uns mit den Guten gefreut, und wir haben geweint über die nicht Guten; wir haben gebetet (tätige Liebe, die sich äußert im Erbitten und Erlangen von Schutz für jene, die man liebt), wir haben gebetet für die Guten, damit sie immer besser werden und sich immer mehr der Vollkommenheit des Guten annähern, der Vollkommenheit des Vaters, der uns vom Himmel aus liebt; wir haben gebetet für die zwischen Gut und Böse Schwankenden, um sie zu stärken, damit die Güte zu ihrem Geist spreche, sie vielleicht sogar durch den Blitz ihrer Macht niederwerfe und sie zum Herrn, ihrem Gott, bekehre. Wir haben geliebt, wie kein anderer je geliebt hat! Wir haben den Gipfel der Vollkommenheit in der Liebe erreicht, um mit unserem Ozean der Liebe den Abgrund zu füllen, den der Mangel an Liebe der Ersten geöffnet hatte, die sich selbst mehr liebten als Gott und die mehr haben wollten als erlaubt, um mehr zu sein als Gott. Deshalb mussten wir Reinheit, Gehorsam und Loslösung von allen Reichtümern der Erde – Fleisch, Macht und Geld, die Dreiheit Satans, die der Dreiheit Gottes, Glaube, Hoffnung und Liebe gegenübersteht; und Haß, Wollust, Zorn und Hochmut, die vier verderbten Gegensätze zu den vier heiligen Tugenden: Stärke, Mäßigkeit, Gerechtigkeit und Klugheit – mit der fortwährenden Übung alles dessen verbinden, was das Gegenteil der Handlungsweise Adams und Evas darstellte.

Und wenn uns dank unseres grenzenlosen guten Willens auch vieles leichtfiel, so weiß der Ewige doch, welch heroische Anstrengung uns diese Übung in gewissen Momenten und gewissen Fällen kostete. Ich möchte hier nur von einem Fall sprechen. Und von meiner Mutter, nicht von mir. Von der neuen Eva, die schon von frühester Jugend an die Blendwerke zurückgewiesen hatte, die Satan gebrauchte, um sie dazu zu verführen, in die Frucht zu beißen und den Geschmack zu verspüren, der die Gefährtin des Adam den Kopf verlieren ließ; von der neuen Eva, die sich nicht darauf beschränkte, Satan abzuweisen, sondern ihn auch zertrat durch ihren Willen zum Gehorsam, zur Liebe und zu einer umfassenden Keuschheit, so dass er, der Verfluchte, besiegt und gebändigt wurde. Nein, unter der Ferse meiner Jungfrau-Mutter kann Satan sich nicht erheben. Er geifert und schäumt, brüllt und lästert. Aber sein Geifer fließt hinunter, und sein Geschrei berührt nicht die Atmosphäre, die meine Heilige umgibt. Sie bemerkt nicht den Gestank, hört nicht das unmäßige Lachen, sieht nicht, sieht nicht einmal den ekelerregenden Geifer der ewigen Schlange, denn die himmlischen Harmonien und die himmlischen Düfte tanzen ihren verliebten Reigen um die Schöne, die Heilige. Und ihr Auge, reiner als die Lilie und verliebter als die gurrende Turteltaube, schaut nur ihren ewigen Herrn, dessen Tochter, Mutter und Braut sie ist.

Als Kain den Abel getötet hatte, sprach der Mund der Mutter die Flüche, die ihr von Gott getrennter Geist ihr eingegeben hatte, gegen den ihr am nächsten Stehenden aus: den Sohn ihres von Satan geschändeten und durch ungeordnete Wünsche entstellten Leibes. Und diese Flüche wurden zum Makel im Reich der menschlichen Moral, wie das Verbrechen des Kain zum Makel im Reich des animalischen Menschen wurde. Blut auf der Erde, von der Hand des Bruders je vergossen. Das erste Blut, dass wie ein mächtiger Magnet alles Blut anzog, dass Menschenhand je vergossen hat, dass aus den Adern von Menschen fließt. Fluch über der Erde aus Menschenmund. Als wäre die Erde noch nicht genügend verflucht durch die Rebellion des Menschen gegen seinen Gott, als kennte sie nicht schon die Plagen, die Dornen und die Härte der Scholle, die Dürre, den Hagel, den Frost, die sengende Hitze – sie, die vollkommen und mit vollkommenen Elementen erschaffen worden war, um eine angenehme und schöne Wohnstatt für den Menschen, ihren König, zu sein.

Maria muss Eva auslöschen. Maria sieht den zweiten Kain: Judas. Maria weiß, dass er der Kain ihres Jesus ist: des zweiten Abel. Sie weiß, dass das Blut des zweiten Abel von diesem Kain verkauft wurde und vergossen wird. Aber sie verflucht nicht. Sie liebt und verzeiht. Sie liebt und ruft zur Umkehr auf.

Oh, Mutterschaft der Märtyrerin Maria! Oh, Mutterschaft, so erhaben, wie deine Jungfräulichkeit göttlich ist! Diese Jungfräulichkeit wurde dir von Gott geschenkt. Aber erstere hast du, heilige Mutter, Miterlöserin, dir selbst geschenkt; denn du, du allein konntest in jener Stunde solche Worte zu Judas sprechen, obwohl die Geißelhiebe, die mein Fleisch zerrissen, auch dein Herz verwundeten. Du, du allein konntest lieben und verzeihen, als du das Kreuz schon dein Herz zerreißen fühltest.

Maria: die neue Eva. Sie lehrt euch die neue Religion, die die Liebe dazu treibt, auch dem zu verzeihen, der einen Sohn tötet. Seid nicht wie Judas, der sein Herz dieser Meisterin der Gnade verschließt, verzweifelt und sagt: „Er kann mir nicht verzeihen“; der an den Worten der Mutter der Wahrheit zweifelt und damit an den Worten, die ich immer wiederholt habe: dass ich gekommen bin, um zu retten, und nicht um zu richten. Um allen zu verzeihen, die reuig zu mir kommen.

Auch Maria, die neue Eva, hat von Gott einen neuen Sohn erhalten „anstelle des Abel, der von Kain getötet worden war“. Aber sie hat ihn nicht in einer Stunde brutalen Genusses empfangen, der den Schmerz in den Nebeln der Sinnenlust und in der Müdigkeit der Befriedigung verbirgt. Sie empfing ihn in einer Stunde des absoluten Schmerzes, am Fuß des Kreuzes, unter dem Röcheln des Sterbenden, der ihr Sohn war, unter den Schmähungen eines gottesmörderischen Volkes, und einer unverdienten und vollkommenen Trostlosigkeit, da auch Gott ihr seinen Trost versagte.

Das neue Leben beginnt für die Menschheit und die einzelnen Menschen mit Maria. Ihre Tugenden und ihre Lebensweise sind eure Schule. Und in ihrem Schmerz, der alle Gesichter hatte, auch das der Vergebung für den Mörder ihres Sohnes, liegt euer Heil.»

Jesus sagt:

«Eines Tages werde ich auf Kain und die Stammeltern zurückkommen. Es gibt viel über sie zu sagen, und man sollte oft über sie nachdenken.»

Jesus sagt:

«In der Genesis steht geschrieben: „Dann gab Adam seinem Weib den Namen Eva, denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen.“

O ja! Die Frau war aus der „Virago“ hervorgegangen, die Gott aus einer Rippe des Adam gebildet und ihm zur Gefährtin gegeben hatte. Sie war mit ihrem schmerzhaften Los geboren worden, weil sie geboren werden wollte. Sie wollte kennenlernen, was Gott ihr verborgen hatte, da er sich die Freude vorbehalten wollte, ihr die Freude einer Nachkommenschaft zu schenken ohne Erniedrigung durch die Sinne. Die Gefährtin des Adam wollte das Gute kennenlernen, dass sich im Bösen verbirgt, und vor allem das Böse, dass sich im Guten, im scheinbar Guten verbirgt. Da sie von Luzifer verführt worden war, verlangte sie nach Erkenntnissen, die nur Gott gefahrlos besitzen konnte, und wurde zur Schöpferin. Aber da sie diese Kraft des Guten unwürdig gebrauchte, wurde sie durch einen Akt des Bösen erniedrigt, denn Ungehorsam gegen Gott ist Bosheit und Gier des Fleisches.

Nun war sie die „Mutter“. Unendliche Klage der Dinge, die die Unschuld der entwürdigten Königin umgaben! Untröstlicher Jammer der Königin über ihre Entwürdigung, deren ganzes Ausmaß und die Unmöglichkeit, sie rückgängig zu machen, sie erkannte! Wenn Finsternis und Naturkatastrophen den Tod des Unschuldigen begleiteten, so begleiteten Finsternis und Sturm ebenso den Tod der Unschuld und der Gnade in den Herzen der Stammeltern. So kam der Schmerz in die Welt. Und die Vorsehung Gottes, die ihn nicht ewig währen lassen wollte, schenkt euch die Möglichkeit, nach Jahren der Tränen und des Schmerzes in die Freude einzugehen, wenn ihr es versteht, rechtschaffen zu leben. Wehe dem Menschen, wenn er nur mit menschlichen Mitteln Herr des Lebens hätte werden müssen; wenn er mit der Erinnerung an seine Verbrechen hätte leben müssen, die ständig zahlreicher werden; denn ohne Sünde zu leben, ist euch unmöglicher als zu leben ohne zu atmen, ihr Geschöpfe, die ihr erschaffen wurdet, um das Licht kennenzulernen, die aber die Finsternis vergiftet und zu ihren Opfern gemacht hat.

Die Finsternis! Sie umgibt euch immerdar. Sie umhüllt euch und läßt in euch wiederaufleben, was das Sakrament gelöscht hat. Und da ihr sie nicht bekämpft mit dem Willen, Gott zu gehören, gelingt es ihr, euch erneut zu verderben mit dem Gift, dass die Taufe unschädlich gemacht hatte.

Gott Vater verjagte den Menschen, dessen Ungehorsam offenkundig war, von dem Ort der paradiesischen Freuden, damit er nicht noch einmal und schlimmer sündige und die diebische Hand nach dem Baum des Lebens ausstrecke. Der Vater konnte seinen Kindern kein Vertrauen mehr schenken und sich in seinem irdischen Paradies nicht sicher fühlen. Satan war einmal eingedrungen, um den geliebten Geschöpfen nachzustellen, und da es ihm gelungen war, sie zur Sünde zu verleiten, als sie noch unschuldig waren, hätte er es nun noch viel leichter gehabt, da sie nicht mehr unschuldig waren.

Der Mensch wollte alles besitzen und Gott nicht den Schatz lassen, der Zeugende zu sein. So musste er mit seinem gewaltsam erworbenen Reichtum das Paradies verlassen und ihn mit in sein Exil auf der Erde nehmen, damit er den gedemütigten und seiner Gaben beraubten König immer an seine Sünde erinnere. Das paradiesische Geschöpf war zu einem irdischen Geschöpf geworden. Jahrhunderte der Leiden mussten vergehen, bis der einzige, der die Hand nach der Frucht des Lebens ausstrecken durfte, kommen und für die ganze Menschheit diese Frucht pflücken konnte. Er pflückte sie mit seinen durchbohrten Händen und gab sie den Menschen, damit sie wieder zu Miterben des Himmels und Besitzern des Lebens würden, dass in Ewigkeit nicht stirbt.

Weiter sagt die Genesis: „Adam erkannte sein Weib Eva.“

Sie wollten die Geheimnisse des Guten und des Bösen kennen. Daher war es gerecht, dass sie auch den Schmerz kennenlernten, sich selbst im Fleisch fortzupflanzen. Und die einzige direkte Hilfe Gottes bestand darin, dass er hinzufügte, was der Mensch nicht schaffen kann: die Seele; den Funken, der von Gott ausgeht, den Hauch, der von Gott eingegeben wird, dass Siegel, dass dem Fleisch das Zeichen des ewigen Schöpfers aufdrückt. Und Eva gebar Kain. Eva war schuldbeladen.

Ich möchte hier eure Aufmerksamkeit auf eine Tatsache lenken, die den meisten entgeht. Eva war schuldbeladen. Sie hatte noch nicht genügend Schmerzen erlitten, um dadurch ihre Schuld zu vermindern. Als vergiftetes Geschöpf hatte sie dem Sohn übertragen, was in ihr brodelte. Und Kain, der erste Sohn Evas, war hart, eifersüchtig, zornig, wollüstig und verderbt, nur wenig anders als die Raubtiere hinsichtlich seiner Instinkte und viel schlimmer als sie hinsichtlich des Übernatürlichen. Denn sein wildes Wesen verweigerte Gott die Ehrfurcht, betrachtete ihn als seinen Feind und hielt sich für berechtigt, ihm keine aufrichtige Verehrung zu erweisen. Satan stachelte ihn an, Gott zu verhöhnen. Und wer Gott verhöhnt, achtet niemanden auf der Welt. Daher kennen alle, die mit den Spöttern des Ewigen in Verbindung stehen, die Bitterkeit der Tränen, denn sie haben keine Hoffnung auf die ehrerbietige Liebe ihrer Kinder. Sie sind sich der treuen Liebe ihres Gatten nicht sicher, noch der aufrichtigen Freundschaft ihrer Freunde.

Tränen über Tränen furchten das Antlitz und das Herz Evas wegen der Härte des Sohnes und legten in ihr Herz den Keim der Reue. Tränen über Tränen erlangten ihr eine Verminderung der Schuld, denn Gott verzeiht dem, der bereut. Und die Seele des Zweitgeborenen war gewaschen von den Tränen der Mutter. Er war sanft und ehrerbietig gegen die Eltern und seinem Gott ergeben, dessen Allmacht er vom Himmel herabstrahlen sah. Er war die Freude der Gefallenen.

Doch der Leidensweg Evas musste lang und schmerzhaft sein, entsprechend dem Weg ihrer sündigen Erfahrungen. Hier ein Freudenrausch. Dort ein Schauer des Schmerzes. Hier Küsse. Dort Blut. Hier ein Sohn.

Dort der Tod eines Sohnes, des wegen seiner Güte bevorzugten Sohnes. Abel wurde zum Instrument der Reinigung für die Schuldige. Aber welch schmerzhafte Reinigung! Sie erfüllte mit ihrem Wehklagen die über den Brudermord bestürzte Erde und vermischte die Tränen einer Mutter mit dem Blut eines Sohnes, während der, der es in seinem Zorn auf Gott und den von Gott geliebten Bruder vergossen hatte, von seiner Reue verfolgt, floh.

Der Herr sprach zu Kain: „Warum bist du zornig?“ Warum bist du zornig, weil ich dich nicht gütig ansehe, da du doch gegen mich fehlst?

Wie viele Kaine gibt es auf der Erde! Sie erweisen mir eine lächerliche, heuchlerische Verehrung oder überhaupt keine und wollen, dass ich sie mit Liebe ansehe und sie mit Glück überhäufe. Gott ist euer König, nicht euer Diener. Gott ist euer Vater. Aber ein Vater ist niemals ein Diener, wenn man es gerecht betrachtet. Gott ist gerecht. Ihr seid es nicht. Aber er ist es. Und da er euch mit Gaben überhäuft, wenn ihr ihn nur ein wenig liebt, muss er euch auch strafen, wenn ihr ihn so sehr verhöhnt. Die Gerechtigkeit kennt nicht zwei Wege. Einer nur ist ihr Weg. Was ihr tut, wird euch zuteil werden. Seid ihr gut, erhaltet ihr Gutes. Seid ihr schlecht, erhaltet ihr Schlechtes. Und, glaubt mir, ihr erhaltet immer noch sehr viel mehr Gutes im Vergleich zu dem Schlechten, dass ihr erhalten solltet wegen eurer Lebensweise und Auflehnung gegen das Gesetz Gottes.

Gott hat gesagt: „Ist es nicht wahr, dass du Gutes erhältst, wenn du recht handelst, und ist nicht die Sünde sofort an deiner Tür, wenn du nicht recht handelst?“ Tatsächlich führt das Gute zu einer beständigen geistigen Erhebung und vergrößert die Fähigkeit, immer mehr Gutes zu tun und bis zur Vollkommenheit und Heiligkeit zu gelangen, während es genügt, Böses zu tun, um sich zu entwürdigen und sich von der Vollkommenheit zu entfernen, um die Herrschaft der Sünde kennenzulernen, die ins Herz einkehrt und es nach und nach in immer größere Schuld verstrickt.

„Aber“, sagt wiederum Gott, „sie wird nach dir verlangen, und du wirst über sie herrschen.“ Ja, Gott hat euch nicht zu Sklaven der Sünde gemacht. Die Leidenschaften sind unter euch, nicht über euch. Gott hat euch Verstand und Kraft gegeben, damit ihr euch beherrscht. Auch den ersten Menschen, die die Strenge Gottes zu spüren bekamen, hat er Intelligenz und moralische Kraft gelassen. Nun, seit der Erlöser sein Opfer für euch vollbracht hat, kommen der Intelligenz und moralischen Kraft die Ströme der Gnade zu Hilfe, und ihr könnt, ihr müßt die Neigung zum Bösen beherrschen. Durch euren durch die Gnade gestärkten Willen müßt ihr dies tun. Deshalb sangen die Engel bei meiner Geburt auf Erden: „Friede den Menschen, die guten Willens sind.“ Ich bin gekommen, um euch die Gnade wiederzubringen, und durch die Verbindung von ihr und eurem guten Willen würde für die Menschen der Frieden kommen. Der Frieden: die Herrlichkeit des Himmels Gottes.

Kain sagte zu seinem Bruder: „Gehen wir hinaus.“ Lüge, die hinter einem Lächeln den todbringenden Verrat verbirgt. Der Verbrecher ist immer ein Lügner. Er lügt seine Opfer und die Welt an, die er zu täuschen versucht, und er möchte auch Gott betrügen. Aber Gott liest in den Herzen. „Gehen wir hinaus.“

Viele Jahrhunderte später sagte einer: „Salve, Meister“, und küßte ihn. Die beiden Kaine verbargen das Verbrechen hinter einem harmlosen Anschein und tobten ihre Eifersucht, ihren Zorn, ihre Überheblichkeit und alle bösen Eigenschaften an dem Opfer aus, denn sie konnten sich nicht beherrschen und hatten ihren Geist zum Sklaven ihres verdorbenen Ichs gemacht.

Eva steigt auf durch die Sühne. Kain steigt hinab zur Hölle; die Verzweiflung packt ihn und läßt ihn immer tiefer sinken. Und mit der Verzweiflung, dem letzten tödlichen Schlag gegen den schon wegen seines Verbrechens dahinsiechenden Geist, kommt die feige Angst vor der irdischen, körperlichen Strafe. Ein Mensch mit einer toten Seele kann sich nicht mehr an den Himmel erinnern. Er ist wie ein Tier, dass um sein animalisches Leben zittert. Der Tod, bei dessen Anblick die Gerechten lächeln, da sie durch ihn in die Freude des Besitzes Gottes eingehen, ist der Schrecken derer, die wissen, dass das Sterben der Übergang von der Hölle des Herzens in die ewige Hölle Satans bedeutet. Und wie ein an Halluzinationen Leidender sehen sie überall Rache, die bereit ist, sie zu treffen.

Aber ihr sollt wissen – ich spreche zu den Gerechten – wenn die Gewissensbisse und die Finsternis eines schuldbeladenen Herzens auch zu Wahnvorstellungen des Sünders führen und sie fördern, so ist es doch niemandem erlaubt, sich zum Richter des Bruders zu erheben, und noch viel weniger, dass Urteil zu vollstrecken. Einer allein ist Richter: Gott. Und wenn die menschliche Gerechtigkeit ihre Gerichte geschaffen hat, so sind diese verpflichtet, ihre Aufgabe wahrzunehmen und Recht zu sprechen. Und wehe denen, die diesen Namen mißbrauchen und das Urteil als Deckmantel für die eigenen Leidenschaften gebrauchen oder dem Druck von seiten anderer nachgeben. Verflucht sei, wer sich selbst zum Richter von Seinesgleichen macht! Aber noch mehr verflucht soll sein, wer nicht aus impulsiver Empörung, sondern aus kalter menschlicher Berechnung ungerecht zum Tod oder zur Unehre des Kerkers verurteilt. Wenn den, der den Mörder tötet, eine siebenfache Strafe erwartet – wie es nach den Worten des Herrn dem Mörder Kains geschehen wäre – so wird den Menschen, der dem Satan hörig ist und der im Gewand menschlicher Überlegenheit zu Unrecht verurteilt, die Strafe Gottes siebenundsiebzigfach treffen. Das sollte man sich immer vor Augen halten, besonders in dieser Zeit, o ihr Menschen, die ihr euch gegenseitig tötet, um aus den Gefallenen den Grundstein eures eigenen Erfolges zu erbauen, und nicht wißt, dass ihr unter euren Füßen die Grube grabt, in die ihr von Gott und den Menschen Verfluchten selbst stürzen werdet. Denn ich habe gesagt: „Du sollst nicht töten.“

Eva steigt empor auf ihrem Weg der Sühne. Die Reue wächst in ihr angesichts der Folgen ihrer Sünde. Sie wollte das Gute und das Böse kennenlernen. Die Erinnerung an das verlorene Gute ist für sie wie die Erinnerung an die Sonne für einen plötzlich Erblindeten; und das Böse ist gegenwärtig vor ihr im Leichnam des getöteten Sohnes und rings um sie durch die Leere, die ihr flüchtiger Sohn, der Mörder, hinterlassen hat.

Dann wurde Seth geboren, und von ihm stammt Enos ab, der erste Priester. Ihr stopft eure Köpfe voll mit Unmengen eurer Wissenschaft und redet von Evolution als Beweis eurer Zufallsentstehung. Der Tier-Mensch wird sich zum Übermenschen entwickeln. So sagt ihr. Ja, so ist es. Aber auf meine Art. Und auf meinem Gebiet. Nicht auf eurem. Nicht durch die Entwicklung vom Vierfüßler zum Menschen, sondern durch die Entwicklung vom Menschen zum vergeistigten Menschen. Je geistiger ihr werdet, desto weiter entwickelt ihr euch.

Ihr redet von Drüsen und nehmt den Mund voll, indem ihr von Hypophyse und Zirbeldrüse redet und den Sitz des Lebens in sie verlegt, nicht nur für die Zeit, da ihr lebt, sondern für die Zeiten, die eurem derzeitigen Leben vorangegangen sind und ihm folgen werden. Wißt, eure wahre Drüse, die euch zu Besitzern des ewigen Lebens macht, ist eure Seele. Je stärker sie entwickelt ist, um so mehr werdet ihr das göttliche Licht erkennen und euch aus Menschen zu Göttern entwickeln, zu unsterblichen Göttern. Und so werdet ihr, ohne dem Wunsch Gottes und seinem Befehl im Hinblick auf den Baum des Lebens zuwiderzuhandeln, dieses Leben erlangen und es so besitzen, wie Gott es will. Denn er hat es ewig und strahlend für euch geschaffen, die selige Umarmung mit seiner Ewigkeit, die euch in sich aufnimmt und euch an ihrem Eigentum teilhaben läßt.

Je mehr der Geist sich entwickeln wird, desto mehr werdet ihr Gott erkennen. Gott erkennen heißt, ihn lieben, ihm dienen, fähig sein, ihn anzurufen für sich selbst und für die anderen, und so zu Priestern zu werden, die auf Erden für ihre Brüder beten. Denn der Geweihte ist Priester; aber auch der überzeugte, liebende, treue Gläubige ist es; vor allem die Sühneseele, die sich aus Liebe selbst opfert. Gott schaut nicht auf das Kleid, sondern auf die Seele. In Wahrheit sage ich euch, vor meinen Augen erscheinen viele Tonsurträger, die vom Priester nur die Tonsur haben, und viele Laien, bei denen die Liebe, die sie besitzen und die sie verzehrt, dass Salböl ist, dass sie zu meinen Priestern macht; der Welt unbekannten, aber mir, der ich sie segne, bekannten Priestern.»

JOHANNES GEHT UND HOLT DIE MUTTER

10.30 Uhr am Karfreitag 1944, die Stunde, in der, wie meine innere Stimme mir sagt, Johannes zu Maria geht.

Ich sehe den Lieblingsjünger noch bleicher, als er zuvor im Hof des Kaiphas, zusammen mit Petrus, schon war. Vielleicht hat der warme Schein des Feuers dort seinen Wangen etwas Farbe verliehen. Nun sind sie eingefallen wie bei einer schweren Krankheit und blutleer, und sein Gesicht über der violetten Tunika gleicht dem eines Ertrunkenen, so groß ist die fahle Blässe. Auch die Augen sind umschattet, die Haare glanzlos und zerzaust. Der Bart, der in diesen Stunden gewachsen ist, legt einen hellen Schimmer über Wangen und Kinn und läßt sie, da er hellblond ist, noch blasser erscheinen. Der Lieblingsjünger hat nichts mehr von dem sanften, heiteren Johannes und auch nichts mehr von dem erregten Johannes, der sich noch vor kurzem mit Zornesröte im Gesicht nur mit Mühe zurückhalten konnte, Judas anzugreifen.

Johannes klopft an die Tür des Hauses und sagt sofort: «Ich bin es, Johannes», so als ob jemand im Innern des Hauses aus Furcht, Judas vor sich zu haben, fragen würde, wer geklopft hat. Die Tür öffnet sich, und Johannes tritt ein.

Auch er geht sofort in den Abendmahlsaal, ohne der Hausfrau zu antworten, die ihn fragt: «Aber was ist denn in der Stadt los?»

Er schließt sich ein, fällt auf die Knie vor dem Ruhebett, auf dem Jesus gelegen ist, weint und ruft ihn schmerzerfüllt. Er küßt das Tischtuch an der Stelle, die Jesu gefaltete Hände berührt haben, liebkost den Kelch, den er in seinen Händen gehalten hat... Dann sagt er: «Oh! Allmächtiger Gott, hilf mir! Hilf mir, es der Mutter zu sagen! Ich habe nicht den Mut dazu! ... Und doch muss ich es ihr sagen. Ich muss es sagen, denn nur ich bin geblieben!»

Er steht auf und denkt nach. Dann berührt er noch einmal den Kelch, gleichsam um Kraft zu schöpfen aus diesem Gegenstand, den der Meister berührt hat, und schaut umher... Er sieht, noch in der Ecke, in die Jesus es gelegt hat, dass Handtuch, mit dem der Meister sich die Hände getrocknet hat nach der Fußwaschung, und das andere, dass er um die Lenden geschlungen hatte. Er nimmt sie, faltet sie, liebkost und küßt sie. Nun bleibt er unentschlossen in der Mitte des leeren Saales stehen. Er sagt: «Ich muss gehen!» Aber er begibt sich nicht zur Tür, sondern kehrt zum Tisch zurück und ergreift den Kelch und das an einem Ende angebrochene Brot, von dem Jesus Judas den eingetauchten Bissen gegeben hat. Er küßt das Brot und den Kelch und drückt sie mit den beiden Tüchern an sein Herz wie eine Reliquie. Schließlich wiederholt er: «Ich muss gehen!» und seufzt. Er begibt sich mit gebeugtem Rücken und zögernden, schleppenden Schritten zu den Stufen, steigt hinauf, öffnet die Tür und geht hinaus.

«Johannes, bist du gekommen?» Maria erscheint wieder an der Tür ihres Zimmers und hält sich am Rahmen fest, als hätte sie nicht die Kraft, ohne diese Stütze aufrecht zu stehen.

Johannes hebt das Haupt und schaut sie an. Er will reden und öffnet den Mund. Aber er bringt kein Wort heraus. Zwei dicke Tränen fließen über seine Wangen. Er senkt, beschämt über seine Schwäche, den Kopf.

«Komm her, Johannes. Weine nicht. Du darfst nicht weinen. Du hast ihn immer geliebt und glücklich gemacht. Das möge dir zum Trost dienen.»

Diese Worte öffnen den Tränen des Johannes alle Schleusen, und sein Weinen wird nun so heftig und laut, dass die Hauswirtin, Maria Magdalena, die Frau des Zebedäus und andere Frauen ihre Köpfe aus ihrem Zimmer strecken.

«Komm zu mir, Johannes.» Maria löst sich vom Türrahmen, nimmt den Jünger bei der Hand, zieht ihn ins Zimmer wie ein Kind, und schließt leise die Tür, um mit ihm allein zu sein.

Johannes reagiert nicht. Doch als er die zitternde Hand Marias auf seinem Haupt fühlt, sinkt er in die Knie, legt die Gegenstände, die er ans Herz gedrückt hatte, auf den Boden, preßt den Saum des Gewandes Marias auf sein schmerzverzerrtes Gesicht und schluchzt: «Verzeihung! Verzeihung! Mutter, verzeih!»

Maria, die aufrecht und bekümmert dasteht, eine Hand auf dem Herzen, während die andere an ihrer Seite herabhängt, sagt mit herzzerreißender Stimme: «Was soll ich dir verzeihen, armer Sohn? Was? Gerade dir!»

Johannes hebt das Antlitz, zeigt es so, wie es ist, ohne jegliche Spur männlichen Stolzes: das Gesicht eines armen, weinenden Kindes, und ruft: «Daß ich ihn verlassen habe! dass ich geflohen bin! dass ich ihn nicht verteidigt habe! Oh, mein Meister! O Meister, verzeih mir! Ich hätte eher sterben sollen, als dich verlassen! Mutter, Mutter, wer wird mich von diesen Gewissensbissen befreien?»

«Friede, Johannes! Er verzeiht dir, er hat dir schon verziehen. Er hat dir deine Verwirrung nicht angerechnet. Er liebt dich.» Maria spricht mit kurzen Unterbrechungen zwischen den kurzen Sätzen, wie von Atemnot befallen, eine Hand auf dem Haupt des Johannes und die andere auf dem armen, angstvoll klopfenden Herzen.

«Aber ich habe ihn nicht einmal gestern abend verstanden... und bin eingeschlafen, obwohl er uns um den Trost gebeten hatte, mit ihm zu wachen. Ich habe ihn allein gelassen, meinen Jesus! Und dann bin ich weggelaufen, als der Verfluchte mit den Henkersknechten gekommen ist...»

«Johannes, du sollst nicht verfluchen. Und nicht hassen, Johannes. Überlasse dem Vater das Gericht. Höre... wo ist er jetzt?»

Johannes neigt sein Haupt wieder bis zum Boden und weint noch heftiger.

«Antworte, Johannes. Wo ist mein Sohn?»

«Mutter... ich ... Mutter... er ist... Mutter...»

«Er ist verurteilt worden, ich weiß es. Ich frage dich, wo ist er in diesem Augenblick?»

«Ich habe alles irgend mögliche getan, um von ihm gesehen zu werden... Ich habe versucht, Erbarmen zu erbetteln bei den Mächtigen, damit er... damit er weniger leiden muss. Sie haben ihn nicht sehr gequält...»

«Du sollst nicht lügen, Johannes. Nicht einmal aus Mitleid mit einer Mutter. Es würde außerdem nichts nützen. Ich weiß. Seit gestern abend folge ich ihm in seinem Leiden. Du kannst es nicht sehen, aber dieselben Geißelhiebe haben mein Fleisch zerschlagen, die Dornen durchbohren meine Stirn, ich habe die Schläge gefühlt... alles. Aber nun... sehe ich ihn nicht mehr. Nun weiß ich nicht, wo sich mein zum Kreuz verurteilter Sohn befindet... Zum Kreuz! Zum Kreuz! ... O Gott, gib mir Kraft! Er muss mich sehen. Ich darf nicht auf meinen Schmerz achten, solange er seinen Schmerz ertragen muss. Wenn alles zu Ende ist, dann, o Gott, laß mich sterben, wenn du willst. Jetzt nicht. Seinetwegen nicht. Damit er mich sieht. Gehen wir, Johannes. Wo ist Jesus?»

«Er verläßt gerade das Haus des Pilatus. Diesen Lärm macht das Volk, dass um ihn herum tobt, während er gefesselt auf den Stufen des Prätoriums steht, in Erwartung des Kreuzes... Vielleicht ist er auch schon auf dem Weg nach Golgotha.»

«Gib deiner Mutter Bescheid, Johannes, und den anderen Frauen. Und gehen wir. Nimm den Kelch, dass Brot und das Linnen... Lege sie hierher. Sie werden uns später ein Trost sein... Und nun gehen wir.»

Johannes hebt die auf dem Boden liegenden Gegenstände auf und geht dann hinaus, um die Frauen zu rufen. Während sie auf ihn wartet, fährt sie sich mit dem Linnen über das Gesicht, wie um in ihm die liebkosende Hand des Sohnes wiederzufinden. Sie küßt den Kelch und das Brot und legt alles auf ein Regal. Dann hüllt sie sich fest in ihren Mantel, zieht ihn herab bis zu den Augen, über den Schleier, der ihr Haupt bedeckt und den sie um den Hals gebunden hat. Sie weint nicht, aber sie zittert. Es scheint, als ringe sie nach Atem, so sehr keucht sie mit offenem Mund. Johannes kommt mit den weinenden Frauen zurück.

«Töchter, schweigt! Helft mir, dass ich nicht weinen muss! Gehen wir.»Und sie stützt sich auf Johannes, der sie wie eine Blinde führt und hält.

Die Vision endet so. Nun ist es 12.30 Uhr, also 11.30 Uhr nach der Sonnenzeit.

Danach, von 13 bis 16 Uhr (Sonnenzeit), bin ich sehr niedergeschlagen gewesen. Ich habe nicht geschlafen, aber ich war derart erschöpft, dass ich weder reden noch mich rühren oder die Augen öffnen konnte. Ich konnte nur leiden. Und ohne etwas zu sehen, betrachtete ich unaufhörlich die Agonie Jesu. Gegen 16 Uhr, als ich an die durchbohrten Hände dachte, sah ich plötzlich Jesus in dem Augenblick, in dem er stirbt. Nur das. Eine letzte Muskelkontraktion, durch die sich der Kopf nach links drehte. Ein letzter tiefer Atemzug und dann der Versuch, noch etwas zu sagen, die Unmöglichkeit, es auszusprechen, eine laute Klage, die in einem Seufzer endete, dann Stille, der Tod. So blieb er. Mit geschlossenen Augen, halb offenem Mund, einen Augenblick noch mit erhobenem Haupt – wohl durch einen heftigen Krampf im Hals – dann fiel es auf die Brust, nach rechts.

Danach habe ich mich etwas erholt, doch nur recht wenig, bis gegen 19 Uhr (Sonnenzeit), und war bis nach Mitternacht wieder in einer schrecklichen Verfassung. Ich habe nicht den Trost einer Vision. Ich bin allein, wie Maria nach dem Begräbnis. Ich sehe nichts und kann nicht reden und leide sehr darunter. Um ein wenig Trost zu finden, beschreibe ich Ihnen, wie gut ich Jesus gestern abend gesehen habe, als ich noch einmal den Abschied von Maria vor dem Abendmahl sehen durfte.

Jesus kniete schon zu Füßen der Mutter, hielt sie umfangen und legte abwechslungsweise das Haupt auf ihre Knie und erhob es wieder, um sie anzublicken. Das Licht eines dreiflammigen Öllämpchens, dass an der Ecke des Tisches neben Maria stand, erhellte das Gesicht meines Jesus, während das der Mutter mehr im Schatten blieb, da sie das Licht im Rücken hatte. Aber Jesus war ganz im Licht.

Und ich verlor mich darin, dass Antlitz zu betrachten, bis in die kleinsten Einzelheiten. Ich wiederhole sie noch einmal. Die in der Mitte gescheitelten Haare fallen in langen Locken auf die Schultern. Eine gute Handbreit sind sie gewellt und enden dann in richtigen Locken. Glänzend, fein, wohlgeordnet, von einem leuchtenden Blond, dass besonders am Ende bei den Locken in einen deutlichen Kupferton übergeht. Eine leichte Vertiefung an den Schläfen, auf die die bläulichen, durch die weiße Haut schimmernden Adern schwache, indigoblaue Schatten zeichnen. Die Haut hat das besondere Weiß mancher rotblonder Menschen, milchweiß mit einem Hauch von Elfenbein und einer kaum merklichen bläulichen Nuance. Eine zarte Haut, die dem Blütenblatt einer weißen Kamelie gleicht und so zart ist, dass das feinste Äderchen durchschimmert und jede Gemütsbewegung sich in einer tiefen Blässe oder lebhaften Röte äußert.

Aber ich habe Jesus immer bleich gesehen in den drei Jahren seiner Pilgerschaft durch Palästina, höchstens ein wenig gebräunt von der Sonne. Maria ist noch blasser, denn sie lebt mehr zurückgezogen, im Haus; ihre Haut ist von einem rosigen Weiß. Jesu Haut ist elfenbeinweiß mit eben diesem bläulichen Schimmer. Seine Nase ist lang und gerade, höchstens ganz oben eine Spur gewölbt. Eine schmale, wohlgeformte Nase. Wunderschön die tiefen Augen von der Farbe, die ich schon so oft beschrieben habe: einem sehr dunklen Saphirblau. Wimpern und Brauen sind dicht, aber nicht zu dicht, lang, schön, glänzend und dunkelbraun mit einem mikroskopischen Funken Gold an der Spitze jedes Härchens. Die Wimpern und Brauen Marias sind hellbraun, feiner und spärlicher. Vielleicht sieht es nur so aus, weil sie so viel heller sind, beinahe blond. Der regelmäßige, eher kleine und schön geformte Mund Jesu gleicht sehr dem Mund seiner Mutter, mit Lippen, die gerade die richtige Breite haben; nicht so schmal, dass sie nur einen Strich bilden, aber auch nicht zu voll. In der Mitte sind sie schön gewölbt und geschwungen, an den Seiten werden sie sehr schmal und lassen den schönen Mund kleiner erscheinen. Er ist von einem gesunden Rot und öffnet sich über einem regelmäßigen, kräftigen Gebiß mit länglichen, schneeweißen Zähnen. Die Zähne der Mutter sind ebenso regelmäßig, aber kleiner.

Die Wangen sind schmal, aber nicht hager, und bilden zusammen mit den weder zu breiten noch zu schmalen Backenknochen ein langes, sehr schönes Oval. Der Bart, der am Kinn dicht und in zwei krause Spitzen geteilt ist, umrahmt den Mund bis zur Unterlippe, bedeckt sie aber nicht und wird dann den Wangen zu immer kürzer. Auf der Höhe der Mundwinkel ist er so kurz, dass er nur noch einem Hauch Kupferstaub auf den blassen Wangen gleicht. An den dichten Stellen hat er die Farbe dunkler Bronze: ein dunkles Rotblond. Auch der nicht sehr dichte Oberlippenbart ist kurz gehalten, so dass er kaum den Zwischenraum zwischen Nase und Oberlippe bedeckt und nur um die Mundwinkel etwas länger ist. Die kleinen, wohlgeformten Ohren liegen dicht am Kopf an. Sie stehen fast überhaupt nicht ab.

Wenn ich daran denke, wie schön Jesus gestern abend war und wie entstellt das Antlitz war, dass ich während der Passion und auch danach viele Male gesehen habe, so wird meine mitleidvolle Liebe für den Leidenden noch größer. Als ich sah, wie er sich neigte und seinen Kopf an die Brust der Mutter legte, wie ein liebebedürftiges Kind, habe ich mich einmal mehr gefragt, wie es die Menschen fertigbringen konnten, so mit ihm umzugehen, mit ihm, der doch so sanft und gut in all seinem Tun gewesen war und allein schon durch sein Aussehen die Herzen gewinnen musste. Ich sah die schönen, langen, blassen Hände die Seiten Marias, die Taille Marias, die Arme Marias umarmen, und ich sagte mir: «Bald werden sie von Nägeln durchbohrt sein!» und litt. Auch weniger Aufmerksame müssen das bemerkt haben.

Heute habe ich sehr nach Ihnen verlangt, Pater, denn ich hatte das Gefühl, dass mein Herz zerspringen müsse oder zu schlagen aufhören würde. Es scheint mir eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit ich Jesus das letzte Mal empfangen habe. Zum Glück ist es schon zwei Uhr morgens und Samstag: Die Stunde der heiligen Kommunion naht. Aber ich bin allein. Jesus schweigt, Maria schweigt. Auch Johannes schweigt. Ich hatte wenigstens ihn erwartet. Nichts. Absolutes Schweigen und absolute Dunkelheit. Es ist wahrhaft zum Verzweifeln...

VOM PRÄTORIUM ZUM KALVARIENBERG

Es vergeht einige Zeit, nicht mehr als eine halbe Stunde, vielleicht auch weniger. Dann gibt Longinus, der mit der Aufsicht über die Hinrichtung beauftragt ist, seine Befehle.

Doch bevor Jesus auf die Straße hinausgeführt wird, um das Kreuz auf sich zu nehmen und sich auf den Weg zu begeben, hat Longinus ihn zwei- oder dreimal neugierig und dann mitleidig angesehen mit dem geübten Auge eines Menschen, der kein Neuling mehr ist in gewissen Dingen. Er kommt nun mit einem Soldaten zu Jesus und bietet ihm eine Erfrischung an. Wein, nehme ich an, denn er gießt aus einer richtigen Feldflasche eine hellrote Flüssigkeit in einen Becher. «Das wird dir guttun. Du musst Durst haben. Draußen scheint die Sonne, und der Weg ist lang.»

Doch Jesus antwortet: «Gott möge dir dein Mitleid vergelten. Aber behalte es für dich.»

«Ich bin gesund und kräftig... Du... Ich entbehre nichts ... und außerdem ... tue ich es gern, wenn ich dir damit ein wenig helfen kann ... Nimm wenigstens einen Schluck ... um mir zu zeigen, dass du die Heiden nicht verachtest.»

Jesus weigert sich nicht länger und trinkt einen Schluck von dem Getränk. Seine Hände sind nicht mehr gefesselt, und er hat auch kein Rohr mehr in der Hand und keinen Mantel, so dass er es selbst tun kann. Mehr will er nicht, obwohl das gute kühle Getränk eine große Erfrischung wäre bei dem Fieber, dass sich schon durch rote Streifen auf den bleichen Wangen und den trockenen, rissigen Lippen bemerkbar macht.

«Nimm, nimm. Es ist Honigwasser. Es stärkt und löscht den Durst... Du tust mir leid... ja ... leid ... Von allen Hebräern bist nicht du es, der getötet werden sollte ... Aber ... Ich hasse dich nicht ... und ich will alles tun, damit du nicht mehr als nötig leiden musst.»

Doch Jesus trinkt nicht mehr... Er hat großen Durst... Den schrecklichen Durst des Ausgebluteten und Fiebernden... Er weiß, dass es kein betäubendes Getränk ist und würde gerne trinken. Aber er will nicht weniger leiden. Ich verstehe, eine innere Erleuchtung sagt mir, dass das Mitleid des Römers eine größere Labung für ihn ist als das Honigwasser.

«Gott vergelte dir diesen Trost mit seinem Segen», sagt er und lächelt dabei ... Ein herzzerreißendes Lächeln mit geschwollenen, verwundeten Lippen, die er nur mühsam bewegen kann, denn zwischen der Nase und dem rechten Jochbogen schwillt die nach der Geißelung durch einen Stockhieb verursachte Quetschung nun stark an.

Es kommen jetzt auch die zwei Räuber hinzu, jeder von einer Decurie Bewaffneter bewacht. Es ist an der Zeit aufzubrechen, und Longinus erteilt die letzten Befehle.

Eine Centurie stellt sich in zwei Reihen in etwa drei Meter Abstand voneinander auf und geht auf den Platz hinaus, auf dem bereits eine andere Centurie ein Viereck gebildet hat, um das Volk zurückzudrängen und für den Zug Platz zu schaffen. Auch Berittene sind auf dem Platz: eine Decurie Kavallerie mit den Feldzeichen und befehligt von einem jungen Offizier. Ein Fußsoldat hält den Rappen des Centurio am Zügel. Longinus steigt in den Sattel und begibt sich an seinen Platz, etwa zwei Meter vor den elf Berittenen.

Nun werden die Kreuze gebracht. Die der beiden Räuber sind kürzer, dass Kreuz Jesu viel länger. Der Längsbalken ist mindestens vier Meter lang, würde ich sagen. Ich sehe, dass man das Kreuz schon fertig bringt.

Ich habe darüber gelesen, als ich noch lesen konnte... also schon vor Jahren, dass man das Kreuz erst auf der Höhe des Golgotha zusammengefügt hätte, und dass die Verurteilten nur die beiden Balken zusammengebunden auf den Schultern getragen hätten. Das ist schon möglich, aber ich sehe ein richtiges Kreuz, massiv und an der Verbindungsstelle der beiden Balken mit Nägeln und Bolzen verstärkt. Und wirklich, wenn man bedenkt, dass das Kreuz dazu bestimmt war, ein beachtliches Gewicht wie den Körper eines Erwachsenen zu tragen und den Krämpfen der Sterbenden standzuhalten, dann wird man verstehen, dass es nicht erst auf dem engen und unbequemen Gipfel des Kalvarienberges zusammengefügt werden konnte.

Bevor sie Jesus das Kreuz geben, hängen sie ihm die Tafel mit der Inschrift: «Jesus von Nazareth, der König der Juden» um den Hals, und die Schnur, an der die Tafel hängt, verfängt sich in der Krone, die sich verschiebt und kratzt, wo noch keine Kratzer sind, wieder an anderen Stellen in den Kopf eindringt und neue Blutungen und neuen Schmerz bereitet. Die Leute lachen in sadistischer Freude, höhnen und fluchen.

Nun sind sie bereit. Longinus gibt den Befehl zum Abmarsch. «Zuerst der Nazarener, und hinter ihm die beiden Räuber; eine Decurie rings um jeden, die anderen sieben Decurien an den Seiten zur Verstärkung. Der Soldat, der es zuläßt, dass einer der Verurteilten tödlich verletzt wird, wird sich dafür verantworten müssen.»

Jesus geht die drei Stufen von der Vorhalle zum Platz hinunter. Auf einmal ist deutlich zu sehen, dass er sehr geschwächt ist. Er wankt, als er die Stufen hinuntersteigt, denn das Kreuz, dass auf der wunden Schulter liegt, behindert ihn beim Gehen, ebenso die Tafel mit der Inschrift, die hin- und herpendelt und am Hals scheuert, und die Erschütterungen, die das Aufschlagen des Längsbalkens auf den Stufen und den Unebenheiten des Bodens verursacht.

Die Juden lachen, als sie bemerken, dass Jesus wie ein Betrunkener wankt, und rufen den Soldaten zu: «Stoßt ihn an, bringt ihn zu Fall. In den Staub mit dem Gotteslästerer!»

Aber die Soldaten tun nur, was ihre Pflicht ist, dass heißt, sie befehlen dem Verurteilten, sich in die Mitte der Straße zu begeben und zu gehen. Longinus gibt dem Pferd die Sporen, und der Zug setzt sich langsam in Bewegung.

Longinus würde sich gerne beeilen und den kürzesten Weg nach Golgotha einschlagen, da er an der körperlichen Widerstandskraft des Verurteilten zweifelt. Aber der entfesselte Pöbel – und Pöbel ist noch gelinde gesagt – will es nicht so. Einige der Schlaueren sind bereits vorausgeeilt zur Weggabelung, wo die Straße auf der einen Seite zur Mauer und auf der anderen in die Stadt führt. Sie schreien und lärmen, als sie sehen, dass Longinus an der Mauer entlang gehen will. «Das darfst du nicht! Das darfst du nicht! Das Gesetz schreibt vor, dass die Verurteilten von der Stadt gesehen werden müssen, in der sie gesündigt haben.» Die Juden am Ende des Zuges verstehen, dass man dort vorne versucht, sie um ihr Recht zu betrügen, und vereinigen ihr Geschrei mit dem der Genossen.

Um des lieben Friedens willen biegt Longinus in die Straße ein, die in die Stadt führt, und reitet ein Stück auf ihr weiter. Gleichzeitig aber gibt er einem Decurio ein Zeichen, zu ihm zu kommen (ich sage Decurio, denn es ist der Offizier; aber vielleicht ist er, was wir einen Ordonnanzoffizier nennen würden) und sagt leise etwas zu ihm. Dieser reitet im Trab nach hinten und übermittelt dem Anführer jeder Decurie den Befehl. Dann teilt er Longinus mit, dass es ausgeführt ist, und begibt sich wieder an seinen vorigen Platz in der Reihe hinter Longinus.

Jesus geht keuchend weiter. Jedes Loch in der Straße ist eine Falle für seinen unsicheren Fuß und eine Tortur für seine verwundete Schulter und sein dornengekröntes Haupt, auf das eine ungewöhnlich heiße Sonne senkrecht herunterbrennt, die sich zwar ab und zu hinter einer bleiernen Wolkenwand verbirgt, aber auch dann nicht weniger brennt. Jesus glüht vor Anstrengung, Fieber und Hitze. Ich glaube, dass auch das grelle Licht und der Lärm ihm Qualen bereiten. Da er sich nicht die Ohren verstopfen kann, um dieses durchdringende Geschrei nicht zu hören, schließt er die Augen halb, um die in der Sonne blendende Straße nicht zu sehen... Aber er muss sie immer wieder öffnen, da er über Steine und Löcher stolpert; und jedes Stolpern ist ein neuer Schmerz, denn durch den Ruck stößt das Kreuz an die Krone, verschiebt sich auf der wunden Schulter, vergrößert die Wunde und vermehrt den Schmerz.

Die Juden können Jesus nicht mehr direkt schlagen. Trotzdem treffen ihn immer noch Steine und Stockschläge. Steine besonders auf den kleinen, von Menschen wimmelnden Plätzen. Stockhiebe an den Biegungen der engen, wegen der ständigen Höhenunterschiede der Stadt einmal eine, dann wieder drei oder mehr Stufen hinauf- oder hinunterführenden Gassen. An solchen Stellen kommt der Zug nur langsam voran, und es gibt immer wieder einen Eifrigen, der den römischen Lanzen trotzt und das Meisterwerk der Tortur, zu dem Jesus geworden ist, mit einem Stoß nachbessern will.

Die Soldaten verteidigen ihn, so gut sie können. Aber weil sie ihn verteidigen, quälen sie ihn auch wieder; denn mit den langen Schäften der auf so engem Raum geschwungenen Lanzen stoßen sie ihn und machen ihn straucheln. An einer bestimmten Stelle jedoch führen die Soldaten ein tadelloses Manöver durch, und trotz des Geschreis und der Drohungen schwenkt der Zug in eine Straße ein, die abwärts und direkt zur Mauer führt und den Weg zur Stätte der Hinrichtung stark abkürzt.

Jesus keucht immer mehr. Der Schweiß furcht sein Antlitz zusammen mit dem Blut, dass aus den Wunden der Dornenkrone fließt. Der Staub bleibt an dem nassen Antlitz kleben und sprenkelt es mit eigenartigen Flecken; denn nun ist es auch windig. Windstöße in regelmäßigen, langen Abständen, in denen der zuvor aufgewirbelte Staub wieder zu Boden sinkt, wehen ihm Schmutz in Augen und Mund.

Am Gerichtstor wartet bereits eine große Menschenmenge. Einige besonders Vorsorgliche haben sich längst Plätze gesichert, von denen aus sie alles überblicken können. Doch kurz bevor Jesus das Tor erreicht, sieht es schon so aus, als ob er stürzen würde. Nur das rasche Eingreifen eines Soldaten, auf den er beinahe gefallen wäre, verhindert, dass Jesus zusammenbricht. Der Mob schreit und brüllt: «Laß ihn doch! Er hat zu allen gesagt: „Erhebt euch.“ Nun soll er selbst aufstehen ...»

Jenseits der Tores ist ein Bach mit einer kleinen Brücke. Eine neue Mühe für Jesus, über diese wackligen Bretter zu gehen, an denen der lange Balken des Kreuzes immer wieder und noch stärker aufschlägt. Und er wird wieder zur Zielscheibe für die Wurfgeschosse der Juden. Die Steine aus dem Bach fliegen durch die Luft und treffen den armen Märtyrer...

Nun beginnt der Aufstieg zum Kalvarienberg. Eine öde Straße ohne eine Spur von Schatten und voll herumliegender Steine führt direkt hinauf.

Hierüber habe ich gelesen, als ich noch lesen konnte, dass der Kalvarienberg nur einige Meter hoch gewesen sein soll. Mag sein. gewiss, er ist kein Berg, aber immerhin ein Hügel, und bestimmt nicht niedriger als der Kreuzberg in Florenz, auf dem die Kirche S. Miniato steht, im Vergleich zu den Straßen am Arno. Mancher wird sagen: «Oh, der ist ja nicht hoch.» Ja, für jemanden, der gesund und kräftig ist, ist es eine Kleinigkeit, dort hinaufzusteigen. Aber man braucht nur ein schwaches Herz zu haben, um zu spüren, ob es eine Kleinigkeit ist oder nicht... Ich weiß, dass ich nach meiner noch relativ geringfügigen Herzerkrankung diesen Weg nicht mehr ohne große Mühe und ohne immer wieder stehenzubleiben gehen konnte, obwohl ich keine Last auf den Schultern zu tragen hatte. Ich bin überzeugt, dass Jesus ein sehr schwaches Herz hatte nach der Geißelung und dem Blutschweiß... abgesehen von allem anderen.

Jesus leidet daher beim Aufstieg furchtbar unter der Last des Kreuzes, dass so groß ist und so schwer sein muss...

Er kommt zu einem herausragenden Stein, und da er keine Kraft mehr hat, den Fuß hoch genug zu heben, stolpert er und fällt auf das rechte Knie. Es gelingt ihm jedoch, sich mit der linken Hand abzustützen. Die Menge schreit vor Freude... Jesus steht wieder auf und geht weiter. Immer gebeugter, keuchender, glühender und fiebriger...

Die Tafel mit der Aufschrift schaukelt vor ihm hin und her und hindert ihn am Sehen; das lange Kleid schleift nun, da er so gebeugt geht, vor ihm auf dem Weg und hindert ihn am Gehen. Er stolpert wieder, fällt auf beide Knie und verletzt sich noch einmal da, wo er schon verletzt ist. Das Kreuz entgleitet seinen Händen und fällt, nachdem es zuvor hart auf seinen Rücken aufgeschlagen ist, auf den Boden, so dass er sich bücken, es wieder aufheben und mühsam auf seine Schulter laden muss. Während er dies tut, sieht man deutlich die durch das Scheuern des Kreuzes auf der rechten Schulter erzeugte Wunde. Es hat die vielen Wunden der Geißelung erneut aufgerissen und eine einzige daraus gemacht, aus der nun Sekret und Blut fließen, so dass auf der weißen Tunika an dieser Stelle ein großer Fleck ist. Die Leute klatschen sogar und freuen sich, dass er so schlimm gefallen ist...

Longinus treibt zur Eile an, und die Soldaten zwingen den armen Jesus durch Schläge mit der Breitseite ihrer Klingen zum Weitergehen. Der Zug kommt aber immer langsamer voran, trotz aller Bemühungen.

Jesus sieht wirklich aus wie ein Betrunkener, da er so sehr schwankt und einmal an die rechte, dann wieder an die linke Reihe der Soldaten stößt, obwohl er die ganze Breite der Straße für sich hat. Und die Leute sehen es und schreien: «Ihm ist seine Lehre zu Kopf gestiegen. Seht nur, wie er schwankt!» Und andere, nicht gewöhnliches Volk, sondern Priester und Schriftgelehrte höhnen: «Nein. Das sind die Folgen der Feste im Haus des Lazarus. Waren sie schön? Nun wirst du unsere Speise zu dir nehmen...» und ähnliches mehr.

Longinus, der sich ab und zu umwendet, fühlt Mitleid und gebietet eine kurze Rast. Er wird so sehr vom Pöbel beschimpft, dass er den Soldaten befiehlt, anzugreifen. Die feige Menge weicht schreiend vor den aufblitzenden drohenden Lanzen zurück und zerstreut sich über den Berg.

Und nun sehe ich unter den wenigen Zurückgebliebenen hinter einem Steinhaufen, vielleicht einer eingefallenen Mauer, die Gruppe der Hirten erscheinen. Untröstlich und verwirrt, staubig und mit zerrissenen Gewändern ziehen sie mit ihren Blicken den Blick des Meisters an. Jesus wendet das Haupt und sieht sie... Er schaut sie an, als wären es die Gesichter von Engeln, scheint ihre Tränen zu trinken und Kraft aus ihnen zu schöpfen und lächelt... Der Befehl zum Weitergehen wird gegeben, und Jesus kommt direkt an ihnen vorbei und hört ihr klagendes Weinen. Mühevoll wendet er sein Haupt unter dem Joch des Kreuzes und lächelt noch einmal...

Sein Trost... Zehn Gesichter, eine Pause in der brennenden Sonne...

Und gleich darauf der Schmerz des dritten und gänzlichen Falles. Dieses Mal stürzt Jesus nicht, weil er gestolpert ist, sondern weil seine Kräfte ihn verlassen, weil er erschöpft ist. Er fällt der Länge nach vornüber mit dem Gesicht auf die Steine und bleibt im Staub liegen, unter dem Kreuz. Die Soldaten versuchen, ihn wieder aufzurichten. Doch da er wie tot daliegt, gehen sie und erstatten dem Centurio Bericht. Als sie zurückkehren, ist Jesus wieder zu sich gekommen. Mit Hilfe zweier Soldaten, von denen der eine das Kreuz aufhebt und der andere den Verurteilten beim Aufstehen stützt, nimmt er langsam wieder seinen Platz ein. Aber er ist völlig am Ende.

«Sorgt dafür, dass er erst am Kreuz stirbt!» schreit die Menge.

«Wenn ihr ihn vorher sterben laßt, werdet ihr euch beim Prokonsul verantworten müssen. Denkt daran, der Schuldige muss lebend die Richtstätte erreichen», sagen die Häupter der Schriftgelehrten zu den Soldaten.

Diese werfen ihnen bitterböse Blicke zu, sagen aber nichts, wie es die militärische Disziplin vorschreibt.

Longinus jedoch fürchtet ebenso wie die Juden, dass Christus unterwegs sterben könnte, und er will keine Unannehmlichkeiten. Ohne dass ihn jemand daran erinnern müßte, weiß er als Verantwortlicher für die Hinrichtung, was er zu tun hat, und ergreift die nötigen Maßnahmen. Er sorgt vor, sehr zur Verwirrung der Juden, die schon vorausgeeilt und von allen Seiten des Berges zusammengelaufen sind und schwitzend und zerkratzt von dem kümmerlichen Dorngestrüpp dieses kahlen, sonnenverbrannten Berges über die vielen herumliegenden Steine fallen – es sieht aus wie die Schutthalde Jerusalems. Aber ihre einzige Sorge ist es, weder einen Seufzer, noch einen schmerzerfüllten Blick, noch eine vielleicht unbewußte Geste des Leidens zu verpassen, und ihre einzige Angst ist es, dass es ihnen nicht gelingen könnte, einen guten Platz zu bekommen. Longinus befiehlt also, den längeren Weg einzuschlagen, der wie eine Spirale den Berg hinaufführt und daher viel weniger steil ist.

Dieser Pfad ist durch die häufige Benutzung zu einem anscheinend ziemlich bequemen Weg geworden. Die beiden Wege kreuzen sich etwa auf halber Höhe des Berges zum ersten Mal. Aber ich sehe, dass der direkte Weg sich weiter oben noch viermal mit dem anderen kreuzt, der sehr viel weniger steil, aber dafür viel länger ist. Und auf diesem steigen Leute hinauf, die sich nicht beteiligen an dem unwürdigen Spektakel der Besessenen, die Jesus folgen, um sich an seinem Schmerz zu weiden. Es sind hauptsächlich verschleierte weinende Frauen und ein wirklich sehr spärliches Grüppchen Männer, die aber den Frauen weit vorausgehen und dann den Blicken entschwinden, als der Weg in einer Biegung um den Berg führt. An dieser Stelle hat der sonderbar geformte Kalvarienberg -dessen eine Seite sich etwas nach außen wölbt, während die andere steil abfällt – eine Art Spitze. Die Männer verschwinden hinter dieser Felsspitze, und ich verliere sie aus den Augen.

Die Leute, die Jesus gefolgt sind, erheben ein zorniges Geschrei. Für sie war es viel schöner, ihn fallen zu sehen. Unter obszönen Beschimpfungen des Verurteilten und seiner Begleiter folgt ein Teil von ihnen weiterhin dem Zug, die übrigen gehen, laufen fast den Rest des steilen Weges hinauf, um die erlittene Enttäuschung durch einen besonders guten Platz auf dem Gipfel wettzumachen.

Die Frauen, die weinend weitergegangen sind, drehen sich um, als sie das Geschrei hören, und sehen, dass der Zug auf sie zukommt. Sie bleiben auf der Bergseite stehen aus Furcht, von den wütenden Juden den Abhang hinuntergestoßen zu werden, und ziehen ihre Schleier noch tiefer über das Gesicht. Eine ist dabei, die das Gesicht wie eine Muselmanin verhüllt hat und nur die rabenschwarzen Augen sehen läßt. Sie sind sehr reich gekleidet und haben zu ihrem Schutz einen robusten alten Mann bei sich, den ich nicht erkennen kann, da auch er ganz in seinen Mantel gehüllt ist. Ich sehe nur den langen, mehr weißen als schwarzen Bart auf dem dunklen Mantel.

Als Jesus bei ihnen ankommt, weinen sie lauter und verneigen sich tief zum Gruß. Dann gehen sie mutig auf ihn zu. Die Soldaten wollen sie mit ihren Speeren zurückdrängen. Aber die wie eine Muselmanin Verhüllte lüftet einen Augenblick den Schleier vor dem Offizier, der sofort herbeigeritten ist um zu sehen, was es denn nun schon wieder für ein Hindernis gibt, und dieser erteilt den Befehl, sie durchzulassen. Ich kann weder das Gesicht noch das Kleid erkennen, denn das Aufheben des Schleiers ist blitzartig erfolgt, und das Kleid ist verborgen unter einem schweren, bodenlangen, von oben bis unten mit mehreren Spangen geschlossenen Mantel. Die Hand, die hervorkommt, um den Schleier zu lüften, ist weiß und schön. Sie und die tiefschwarzen Augen sind das einzige, was man von dieser hochgewachsenen Dame sieht, die gewiss einflußreich ist, da ihr der Adjutant des Longinus so prompt gehorcht.

Weinend nähern sie sich Jesus und knien zu seinen Füßen nieder, während er keuchend stehenbleibt... und trotzdem lächelt er den barmherzigen Frauen und dem alten Mann zu, der nun sein Gesicht zeigt, so dass ich Jonathan erkenne. Ihn lassen die Wachen jedoch nicht passieren, nur die Frauen. Eine von ihnen ist Johanna des Chuza. Es geht ihr viel schlechter als damals, da sie dem Sterben nahe war. Rot sind nur die Spuren der Tränen, sonst ist ihr Antlitz schneeweiß, und die sanften schwarzen Augen sind so getrübt, dass sie manchen sehr dunkelvioletten Blumen gleichen. In den Händen hält sie eine silberne Amphore und bietet sie Jesus an. Aber er lehnt ab. Zudem keucht er so sehr, dass er nicht einmal trinken könnte. Mit der linken Hand wischt er sich den Schweiß und das Blut von den Augen, dass ihm aus den von den mühsamen Schlägen seines Herzens angeschwollenen Adern über die bläulichen Wangen und den Hals rinnt und das Kleid an der Brust durchtränkt.

Eine andere Frau hat eine junge Dienerin dabei, die ein Kästchen trägt. Sie öffnet es, nimmt ein feines viereckiges Leinentuch heraus und reicht es dem Erlöser. Das nimmt er an. Da er es mit nur einer Hand nicht auf sein Gesicht drücken kann, hilft ihm die Mitleidige und achtet darauf, die Dornenkrone nicht zu berühren. Jesus drückt das frische Linnen eine ganze Weile auf sein armes Antlitz, als ob es eine große Wohltat für ihn wäre. Dann gibt er das Tuch zurück und sagt: «Danke, Johanna, danke Nike, Sara ... Marcella... Elisa... Lydia... Anna ... Valeria... und du... Aber weint nicht ... über mich... Töchter Jerusalems ... sondern über eure Sünden... und die Sünden eurer Stadt... Sei glücklich... Johanna... dass du keine... Kinder mehr haben wirst... Siehst du ... es ist Barmherzigkeit Gottes... keine Kinder zu haben ... damit sie nicht ... unter diesem hier... leiden müssen... Auch du... Elisa ... Besser so... als unter den Gottesmördern... Und ihr, Mütter ... weint über... eure Kinder... denn diese Stunde... wird nicht unbestraft ... vorübergehen... Und was für eine Strafe... da der Unschuldige... solches hat erleiden müssen... Dann werdet ihr weinen ... dass ihr empfangen habt... Wahrlich, ich sage euch... glücklich jene ... die dann... als erste... unter den Trümmern... fallen... Ich segne euch... Geht nach Hause... Betet... für mich. Leb wohl, Jonathan... führe sie weg ...»

Begleitet von dem lauten Klagen der weinenden Frauen und den Verwünschungen der Juden, geht Jesus weiter.

Jesus ist wieder schweißgebadet. Auch die Soldaten und die beiden anderen Verurteilten schwitzen, denn die Sonne dieses gewitterschwülen Tages brennt wie Feuer, und das glühend heiße Gestein des Berges verstärkt noch die Sonnenhitze. Was diese Sonne auf dem Wollkleid Jesu über den Wunden der Geißelung sein muss, kann man sich vorstellen. Es muss furchtbar sein... Aber er klagt nicht. Nur, obwohl der Weg viel weniger steil ist und hier auch nicht, wie auf dem anderen, die für seine nur noch schleifenden Füße so gefährlichen losen Steine herumliegen, schwankt Jesus immer mehr, stößt wieder gegen die Reihen der Soldaten auf beiden Seiten und geht immer tiefer gebeugt.

Sie versuchen ihm zu helfen, binden ihm einen Strick um die Mitte und halten die beiden Enden wie einen Zügel. Ja, dass hält ihn auf den Füßen. Aber es erleichtert ihm nicht die Last. Im Gegenteil, der Strick zieht das Kreuz auf der Schulter hin und her, und es stößt an die Dornenkrone, die nun aus der Stirn Jesu eine blutende Tätowierung gemacht hat. Außerdem scheuert der Strick am Gürtel, wo so viele Wunden sind, die nun sicher wieder aufbrechen, denn die weiße Tunika färbt sich blaßrot. Obwohl sie ihm helfen wollen, bereiten sie ihm nur noch größere Schmerzen.

Der Weg führt weiter, um den Berg herum und beinahe wieder bis zu der steilen Straße vorn. Dort steht Maria mit Johannes. Wahrscheinlich hat Johannes Maria an diese schattige Stelle hinter dem Berghang geführt, um sie ein wenig zu Kräften kommen zu lassen. Es ist der steilere Teil des Berges, und nur dieser Weg führt hier um ihn herum. Sonst steigt der Hang steil an und fällt ebenso steil ab. Deshalb haben die Grausamen ihn auch gemieden. Dort ist es schattig, denn es ist wohl die Nordseite, und Maria, die sich an den Berg lehnt, ist vor der Sonne geschützt. Sie steht zwar, stützt sich aber auf das Erdreich und ist völlig erschöpft. Auch sie keucht und ist blaß wie der Tod in ihrem dunkelblauen, fast schwarzen Gewand.

Johannes betrachtet sie mit untröstlichem Mitleid. Auch er hat wie ein Kranker jede Spur von Farbe verloren und ist erdfahl, mit zwei müden, verstörten Augen, ungekämmt und mit eingefallenen Wangen. Die anderen Frauen, Maria und Martha des Lazarus, Maria des Alphäus und Maria des Zebedäus, Susanna von Kana, die Hauswirtin und andere, die ich nicht kenne, stehen alle mitten auf der Straße und halten nach dem Erlöser Ausschau. Als sie Longinus kommen sehen, eilen sie zu Maria, um es ihr mitzuteilen. Maria, von Johannes an einem Ellbogen gestützt, verläßt – majestätisch in ihrem Schmerz – die Bergwand und begibt sich entschlossen in die Mitte der Straße. Beim Herannahen des Longinus tritt sie ein wenig zur Seite. Dieser blickt von seinem Rappen herab auf die bleiche Frau und ihren blonden Begleiter, der dieselben sanften himmelblauen Augen hat wie sie, und schüttelt den Kopf im Vorüberreiten, gefolgt von den elf Berittenen.

Maria versucht, zwischen den zu Fuß gehenden Soldaten durchzukommen. Aber diese sind erhitzt und haben es eilig und versuchen, sie mit den Speerschäften abzuhalten, um so mehr, als Steine heranschwirren als Protest gegen so viel Mitleid. Es sind die Juden, die noch über den durch die frommen Frauen verursachten Aufenthalt verärgert sind und sagen: «Schnell! Morgen ist Passah. Alles muss vor dem Abend zu Ende sein! Ihr Komplizen! Ihr Verächter unseres Gesetzes! Ihr Unterdrücker! Tod den Invasoren und ihrem Christus! Sie lieben ihn! Und wie sie ihn lieben!

Aber nehmt ihn euch nur! Bringt ihn in eure verfluchte Stadt! Wir lassen ihn euch! Wir wollen ihn nicht! Das Aas dem Aas! Der Aussatz den Aussätzigen!»

Longinus hat genug von dieser schimpfenden Meute und gibt dem Pferd die Sporen, gefolgt von den zehn Lanzenreitern, so dass die Leute zum zweiten Mal fliehen. Während er dies tut, bemerkt er einen Karren, der wohl von den Gärten am Fuß des Berges heraufgekommen ist und mit seiner Ladung Salat wartet, bis die Menge vorüber und der Weg zur Stadt frei ist. Mir scheint, dass auch etwas Neugier den Cyrenäer und seine beiden Söhne dort hinaufgeführt hat, denn eigentlich hätten sie diesen Weg nicht zu nehmen brauchen. Die beiden Söhne, die sich auf das Grünzeug gelegt haben, schauen den fliehenden Juden lachend nach. Der Mann, ein sehr kräftiger, etwa fünfundvierzigjähriger Mann, steht neben seinem erschrockenen Eselchen, dass zurückzuweichen versucht, und betrachtet aufmerksam den Zug.

Longinus mustert ihn, denkt, dass er ihm gerade recht kommt und befiehlt: «Mann, komm her!» Der Cyrenäer tut, als habe er nichts gehört. Aber mit Longinus ist nicht zu spassen. Er wiederholt den Befehl in einem Ton, dass der Mann einem seiner Söhne die Zügel zuwirft und dem Centurio entgegengeht.

«Siehst du den Mann dort?» fragt er. Und während er es sagt, dreht er sich um, zeigt auf Jesus und sieht, wie Maria die Soldaten anfleht, sie durchzulassen. Er hat Mitleid mit ihr und ruft: «Laßt die Frau passieren!» Dann sagt er wieder zu dem Cyrenäer: «Er kann so beladen nicht weitergehen. Du bist kräftig. Nimm das Kreuz und trage es ihm bis zum Gipfel.»

«Ich kann nicht... Ich habe den Esel... Er ist bockig... Die Jungen können ihn nicht halten ...»

Aber Longinus entgegnet: «Geh, wenn du nicht den Esel verlieren und zwanzig Stockschläge Strafe bekommen willst.»

Der Cyrenäer wagt es nicht, sich weiterhin zu weigern. Er ruft den Jungen zu: «Geht rasch nach Hause und sagt, dass ich bald nachkomme», und geht zu Jesus.

Er erreicht ihn, als Jesus sich gerade der Mutter zuwendet, die er erst jetzt auf sich zukommen sieht, da er tief gebeugt und mit fast geschlossenen Augen geht und daher kaum etwas sieht, und ruft: «Mama!»

Es ist das erste Wort seit Beginn seiner Tortur, dass sein unendliches Leiden zum Ausdruck bringt. Denn dieser Aufschrei enthält seinen ganzen furchtbaren geistigen, seelischen und körperlichen Schmerz. Es ist der gequälte, herzzerreißende Schrei eines Kindes, dass allein sterben muss, unter Leiden und schlimmsten Martern... und das sich schließlich sogar vor seinen eigenen Atemzügen fürchtet. Es ist die Klage eines fiebernden, von bösen Alpträumen gequälten Kindes... Und es verlangt nach der Mutter, der Mama, denn nur ihre kühlenden Küsse lindern die Hitze des Fiebers, nur ihre Stimme verjagt die Gespenster, und nur ihre Umarmung läßt den Tod weniger furchtbar erscheinen...

Maria greift mit der Hand ans Herz, als ob es von einem Dolch durchbohrt worden wäre, und wankt leicht. Doch dann erholt sie sich, beschleunigt ihren Schritt und ruft, während sie mit ausgestreckten Armen zu ihrem gequälten Jesus eilt: «Sohn!» Sie sagt es so, dass es jedem das Herz zerreißt, der nicht das Herz einer Hyäne hat.

Ich sehe, dass sich auch unter den Römern Mitleid regt... und dabei sind es doch Soldaten, denen das Töten nicht fremd ist und die von Narben bedeckt sind... Aber die Worte: «Mama!», und: «Sohn!», sind immer dieselben und werden von allen, die nicht schlimmer als Hyänen sind, gesprochen und verstanden. Und sie erwecken daher überall Mitleid.

Auch der Cyrenäer empfindet dieses Mitleid... und als er sieht, dass Maria ihren Sohn nicht umarmen kann, da das Kreuz sie daran hindert, und dass sie die ausgestreckten Arme in Anbetracht dieser Unmöglichkeit wieder sinken läßt – sie sieht ihn nur an und will ihm zulächeln mit ihrem Märtyrerlächeln, um ihm Mut zu machen, während ihre bebenden Lippen ihre Tränen trinken; und er wendet ihr das Haupt unter dem Joch des Kreuzes zu und versucht ebenfalls, sie anzulächeln und ihr einen Kuß seiner armen, wunden, zerschlagenen und durch das Fieber aufgesprungenen Lippen zu schicken – da beeilt sich der Cyrenäer, ihm das Kreuz abzunehmen, und er tut es mit der Umsicht eines Vaters, um nicht an die Dornenkrone zu stoßen oder die Wunden zu berühren.

Aber Maria kann ihren Sohn nicht küssen... Schon die geringste Berührung wäre eine Tortur für den gemarterten Körper, und sie verzichtet darauf. Und zudem... die heiligsten Gefühle haben eine tiefe Scham. Sie verlangen Ehrfurcht oder zumindest Mitleid. Hier sind sie von Neugier und Verachtung umgeben. So küssen sich nur die beiden angstvollen Seelen.

Der Zug setzt sich wieder in Bewegung unter dem Druck des wütenden Volkes, dass von hinten drängt und die Mutter von ihrem Sohn trennt. Sie wird an den Berg gedrückt und ist dem Spott eines ganzes Volkes ausgesetzt... Nun geht hinter Jesus der Cyrenäer mit dem Kreuz. Jesus fällt das Gehen jetzt, da er von dieser Last befreit ist, leichter. Er keucht zwar stark und legt oft die Hand aufs Herz, als hätte er einen großen Schmerz, eine Wunde dort in der Herzgegend, aber er kann nun, da seine Hände nicht mehr gebunden sind, die ins Gesicht hängenden, von Schweiß und Blut verklebten Haare hinter die Ohren zurückstreichen, um die Luft in seinem blutleeren Gesicht zu spüren, und die Kordel am Hals lösen, um leichter zu atmen. Er kann besser gehen.

Maria hat sich mit den Frauen zurückgezogen. Sie schließt sich dem Zug an, als dieser vorüber ist, erreicht über eine Abkürzung den Gipfel des Berges und trotzt allen Schmähungen des kannibalischen Pöbels.

Nun, da Jesus frei ist, geht es rascher mit der letzten Wegstrecke um den Berg, und der Gipfel voll lärmender Leute ist schon nahe.

Longinus hält sein Pferd an und befiehlt, dass alle, ohne Ausnahme, weiter nach unten zurückgedrängt werden sollen, damit der Gipfel, der Ort der Hinrichtung, frei wird. Eine halbe Centurie führt den Befehl aus, eilt auf den Platz und verjagt mitleidlos alle, die sich dort befinden, unter Zuhilfenahme der Schwerter und Lanzen. Unter dem Hagel der Hiebe und Schläge fliehen die Juden vom Gipfel und würden nun gerne auf dem ebenen Platz weiter unten stehenbleiben. Aber die, die dort zuerst waren, lassen das nicht zu. So entstehen wilde Raufereien unter dem Volk, dass sich wie irrsinnig gebärdet.

Wie schon einmal gesagt, hat der Gipfel des Kalvarienberges die Form eines ungleichen Trapezes, dass auf der einen Seite etwas höher ist und von wo der Berg über die Hälfte seiner Höhe steil abfällt. Auf diesem kleinen Platz sind schon die drei tiefen Löcher vorbereitet und mit Ziegeln oder Schiefer ausgekleidet, eben eigens zu diesem Zweck hergerichtet. Daneben liegen Steine und Erde, um damit den Kreuzen Halt zu geben. Andere Löcher hat man voller Steine gelassen. Man versteht, dass diese von Fall zu Fall ausgeräumt werden, je nach der notwendigen Anzahl.

Unter dem trapezförmigen Gipfel befindet sich auf der Seite, wo der Berg nicht so steil ist, eine leicht abfallende Terrasse, die einen zweiten kleinen Platz bildet. Von diesem führen zwei breite Wege um den Gipfel, so dass dieser isoliert und auf allen Seiten ungefähr zwei Meter höher liegt.

Die Soldaten, die die Menschenmenge vom Gipfel vertrieben haben, legen die Streitigkeiten durch die Überzeugungskraft ihrer Lanzenschäfte bei und schaffen Platz, damit der Zug das letzte Stück Weg ohne Hindernisse zurücklegen kann; und sie bilden einen Schutzwall, während die drei Verurteilten, umgeben von den Reitern und gefolgt von der anderen halben Centurie an die Stelle gelangen, wo alle stehenbleiben müssen: am Fuß der natürlichen erhöhten Bühne, die der Gipfel des Golgotha ist.

Während dies geschieht, bemerke ich die Marien und etwas hinter ihnen Johanna des Chuza mit vier der Frauen von zuvor. Die übrigen haben sich zurückgezogen. Sie müssen es allein getan haben, denn Jonathan steht hinter seiner Herrin. Die, die wir Veronika nennen und die Jesus Nike genannt hat, ist nicht mehr da, und auch ihre Dienerin nicht. Auch die ganz Verschleierte, der die Soldaten gehorcht haben, ist nicht mehr da. Ich sehe Johanna, die alte Elisa, Anna und zwei, die ich nicht genau erkennen kann. Hinter diesen Frauen und den Marien sehe ich Joseph und Simon des Alphäus und Alphäus der Sara mit der Gruppe der Hirten. Sie haben sich gegen alle verteidigt, die sie unter Beschimpfungen vertreiben wollten, und die durch die Liebe und den Schmerz vervielfachten Kräfte dieser Männer und die angewendete Gewalt haben gesiegt. So bilden sie nun einen Halbkreis, und die feigen Juden beschränken sich darauf, ihnen schreiend zu drohen

und die Fäuste zu schütteln. Mehr nicht, denn die Stöcke der Hirten sind knotig und schwer, und an Kraft und Zielgenauigkeit fehlt es diesen mutigen Männern auch nicht. Und was ich sage, ist nicht übertrieben. Es braucht schon wirklichen Mut, damit so wenige, die noch dazu als Galiläer oder Anhänger des Galiläers bekannt sind, sich gegen eine ganze feindselige Volksmenge behaupten. Die einzige Stelle auf dem ganzen Kalvarienberg, wo man Christus nicht lästert!

Der Berg gleicht auf den drei Seiten, die nicht so steil abfallen, einem Ameisenhaufen. Den gelben, nackten Boden kann man nicht mehr sehen. In der Sonne, die einmal scheint und dann wieder verschwindet, sieht es aus wie eine Wiese voll bunter Blumen, so dicht drängen sich die farbigen Kopfbedeckungen und Mäntel dieser Sadisten. Auf der anderen Seite des Baches, auf der Straße noch eine Volksmenge; hinter der Mauer und auf den Terrassen in der Nähe ebenfalls überall Menschen. Die übrige Stadt leer... verlassen... schweigend. Alles ist hier. Die ganze Liebe und der ganze Haß, dass ganze Schweigen, dass liebt und verzeiht, und der ganze Lärm, der haßt und beschimpft.

Während die mit der Hinrichtung beauftragten Männer ihr Werkzeug vorbereiten und die Löcher vollends entleeren, während die Verurteilten in der Mitte ihres Vierecks warten, beschimpfen die Juden, die sich auf die entgegengesetzte Seite geflüchtet haben, die Marien. Auch die Mutter beleidigen sie: «Tod den Galiläern! Tod! Galiläer! Galiläer! Verfluchte! Tod dem galiläischen Gotteslästerer! Schlagt auch den Leib, der ihn getragen hat, ans Kreuz! Weg mit den Schlangen, die Dämonen gebären! Zum Tod! Reinigt Israel von den Frauen, die sich mit dem Bock vereinigt haben...!»

Longinus, der vom Pferd gestiegen ist, wendet sich um und sieht die Mutter. Er befiehlt, diese Pöbeleien zu beenden... Die halbe Centurie hinter den Verurteilten geht auf das Gesindel los und macht auch den zweiten Platz frei, während die Juden über den Berg fliehen und sich dabei gegenseitig stoßen und treten. Auch die anderen Soldaten steigen vom Pferd, und einer nimmt die elf Pferde und das des Centurio und führt sie in den Schatten.

Der Centurio begibt sich zum Gipfel. Johanna des Chuza tritt vor und hält ihn an. Sie gibt ihm die Amphore und eine Börse. Dann zieht sie sich weinend zurück und geht mit den anderen an den äußersten Rand des Berges.

Oben ist alles bereit. Die Verurteilten werden hinaufgeführt. Jesus kommt noch einmal an der Mutter vorbei, die aufstöhnt, es jedoch zu verbergen versucht und sich den Mantel vor den Mund hält. Die Juden sehen es und lachen und spotten darüber.

Johannes, der sanfte Johannes, der einen Arm um Maria gelegt hat, um sie zu stützen, dreht sich mit zornblitzenden Blicken um. Seine Augen sprühen Feuer, und ich glaube, wenn er nicht die Frauen zu beschützen hätte, würde er einen der Feiglinge an der Kehle packen.

Kaum sind die Verurteilten auf dem Platz der Hinrichtung angelangt, umgeben die Soldaten den Ort von drei Seiten. Nur die Seite, wo der Fels steil abfällt, bleibt frei.

Der Centurio befiehlt dem Cyrenäer, sich zu entfernen. Dieser geht nun schweren Herzens, ich würde sagen, nicht aus Sadismus, sondern aus Liebe. Deshalb bleibt er bei den Galiläern stehen und teilt mit ihnen die Schmähungen, mit denen das Volk die wenigen Getreuen des Christus überschüttet.

Die beiden Räuber werfen fluchend ihre Kreuze zu Boden. Jesus schweigt.

Die via dolorosa ist zu Ende.

DIE KREUZIGUNG

Vier muskulöse Männer, dem Aussehen nach Juden, und des Kreuzes würdigere Juden als die Verurteilten, gewiss von der gleichen Sorte wie die Geißler, springen von einem Pfad zur Hinrichtungsstätte hinauf. Sie tragen kurze ärmellose Tuniken und haben Nägel, Hämmer und Stricke in den Händen, die sie den drei Verurteilten grinsend zeigen. Durch die Menge geht eine Bewegung grausamer Begeisterung.

Der Centurio bietet Jesus den Krug an, damit er den schmerzlindernden Myrrhenwein zu sich nimmt. Doch Jesus lehnt ab. Die beiden Räuber hingegen trinken viel davon. Dann stellt man die weithalsige Amphore neben einen großen Stein, fast an den äußersten Rand des Gipfels.

Den Verurteilten wird nun befohlen, sich zu entkleiden. Die beiden Räuber tun dies ohne die geringste Scham. Sie vergnügen sich sogar damit, obszöne Gesten in Richtung der Menge und besonders der Priester in ihren weißen Leinengewändern zu machen, die ganz langsam auf den unteren kleinen Platz zurückgekehrt sind und ihr Ansehen ausgenützt haben, um sich dorthin vorzudrängen. Zu den Priestern sind zwei oder drei Pharisäer gekommen und andere anmaßende Gestalten, die der Haß zu Freunden macht. Ich sehe bekannte Personen, wie die Pharisäer Jochanan und Ismael, den Schriftgelehrten Sadok, Eli von Kapharnaum...

Die Henker reichen den Verurteilten drei Lappen, damit sie sie um ihre Lenden binden. Die Räuber nehmen sie unter schrecklichen Flüchen. Jesus, der sich langsam entkleidet wegen der schmerzenden Wunden, lehnt ab. Vielleicht will er die kurzen Beinkleider anbehalten, die er auch bei der Geißelung getragen hat. Als ihm aber gesagt wird, dass er auch diese ablegen muss, streckt er die Hand aus, um vom Henker den Lappen zu erbitten und damit seine Blöße zu bedecken. Er ist nun wirklich der Erniedrigte, der selbst von Verbrechern einen Fetzen Stoff erbitten muss.

Doch Maria hat die Szene beobachtet und den langen weißen Schleier abgenommen, der ihr Haupt unter dem dunklen Mantel bedeckt und in den sie schon so viele Tränen geweint hat. Sie nimmt den Schleier ab, ohne dass der Mantel fällt, und gibt ihn Johannes, damit dieser ihn Longinus für den Sohn reiche. Der Centurio nimmt den Schleier widerspruchslos, und als er sieht, dass Jesus sich vollends entkleidet, wobei er sich vom Volk abwendet, so dass man seinen Rücken voll blauer Flecken und Blasen, offener blutender Wunden oder dunkler Blutkrusten sieht, übergibt er ihm das Tuch der Mutter. Jesus erkennt es. Er wickelt es mehrmals um die Hüften und befestigt es gut, damit es nicht rutscht... Und auf das bisher nur von Tränen benetzte Leinen fallen die ersten Blutstropfen, denn die vielen, kaum von Schorf bedeckten Wunden öffnen sich wieder, als er sich bückt, um Kleider und Sandalen abzulegen, und das Blut beginnt erneut zu fließen.

Nun wendet sich Jesus dem Volk zu. Und man sieht, dass auch die Brust, die Arme und die Beine voller Geißelhiebe sind. In der Lebergegend ist ein großer, blutunterlaufener Fleck, und unter dem linken Rippenbogen sind sieben geschwollene Striemen, die in einem violetten Kreis kleiner blutender Wunden enden... ein grausamer Geißelhieb in die so empfindliche Zwerchfellgegend. Die Knie sind durch die zahlreichen Stürze gleich nach der Gefangennahme und bis hinauf zum Kalvarienberg von schwarzen Blutergüssen bedeckt und an den Kniescheiben aufgeschlagen. Vor allem das rechte ist eine einzige blutige Wunde.

Das Volk verhöhnt ihn im Chor: «Oh, Schöner! Der Schönste unter den Menschenkindern! Die Töchter Jerusalems beten dich an...» und sie stimmen im Ton der Psalmen an: «Mein Geliebter ist weiß und rot, und er ragt hervor aus Zehntausenden. Sein Haupt ist feines Gold; wie Dattelrispen sind seine Locken, seidig wie das Gefieder der Raben. Seine Augen sind zwei Tauben am Wasser eines Baches, die sich baden in Milch, in der Milch seiner Augäpfel. Seine Wangen sind wie balsamische Beete. Wie Lilien sind seine Purpurlippen, sie träufeln flüssige Myrrhe. Es sind wie von Gold gedreht seine Hände, mit rosenroten Hyazinthen besetzt. Sein Leib ist wie Elfenbein, geschmückt mit Saphir. Seine Beine sind Marmorsäulen auf Sockeln von Feingold. Dem Libanon gleicht seine Majestät, den hohen Zedern sein Wuchs. Sein Mund ist voll Süße, alles ist Liebreiz an ihm.» Und sie lachen und schreien weiter: «Der Aussätzige, der Aussätzige! Hast du vielleicht mit einem Götzen Unzucht getrieben, dass Gott dich so sehr straft? Hast du dich gegen die Heiligen Israels aufgelehnt, wie Maria des Moses, dass du so gezüchtigt wirst? Oh! Oh, der Vollkommene! Du bist der Sohn Gottes? Aber nein! Die Mißgeburt Satans bist du! Aber er, Mammon, ist wenigstens mächtig und stark. Du... bist nur ein ohnmächtiges, schmutziges Nichts.»

Die Räuber werden an die Kreuze gebunden und an ihre Plätze getragen, einer rechts und der andere links von dem für Jesus bestimmten Platz. Sie schreien, verwünschen und fluchen, besonders als man die Kreuze zu den Löchern trägt und die Stricke durch die Erschütterung in die Gelenke einschneiden. Ihre Flüche gegen Gott, gegen das Gesetz, gegen die Römer und gegen die Juden sind höllisch.

Nun ist Jesus an der Reihe. Er legt sich ohne Widerstand zu leisten auf das Holz. Die beiden Räuber waren so rebellisch, dass die vier Henker allein mit ihnen nicht fertig wurden und Soldaten zu Hilfe rufen mussten, um sie festzuhalten, damit sie nicht beim Anbinden der Handgelenke Fußtritte bekämen. Bei Jesus braucht es keine Hilfe. Er legt sich nieder, legt das Haupt an die bezeichnete Stelle. Er öffnet die Arme, wie sie ihm zu tun gebieten, und streckt die Beine aus, wie es befohlen wird. Er sorgt nur dafür, dass das Tuch richtig sitzt.

Nun hebt sich sein schlanker, weißer Körper von dem dunklen Holz und dem gelben Erdboden ab. Zwei Henker setzen sich auf seinen Oberkörper, um ihn festzuhalten. Ich denke darüber nach, welche Beklemmung und welchen Schmerz ihm dieses Gewicht verursachen muss. Ein dritter nimmt den rechten Arm und hält mit einer Hand den Unterarm und mit der anderen die Finger fest. Der vierte, der schon den langen, spitzen viereckigen Nagel mit dem großen, flachen, runden Kopf in der Hand hat, prüft, ob das bereits in das Holz gebohrte Loch sich an der dem Handgelenk entsprechenden Stelle, wo Elle und Speiche zusammen treffen, befindet. Es paßt. Der Henker setzt den Nagel an den Puls, hebt den Hammer und führt den ersten Schlag.

Jesus, der die Augen geschlossen hatte, schreit bei diesem Schmerz auf, zuckt zusammen und öffnet weit die in Tränen schwimmenden Augen. Es muss ein schrecklicher Schmerz sein, den er fühlt... Der Nagel dringt ein, zerreißt Muskeln, Adern und Nerven und zerbricht die Knochen...

Maria antwortet auf den Schrei ihres gequälten Sohnes mit einem Stöhnen, dass dem Klagen eines geschlachteten Lammes gleicht. Sie krümmt sich vor Schmerz und faßt sich mit den Händen an den Kopf. Jesus gibt nun keinen Laut mehr von sich, um sie nicht zu quälen. Aber die Schläge sind regelmäßig und hart, Eisen auf Eisen... und darunter ist ein lebendiges Glied, dass sie empfängt.

Die rechte Hand ist angenagelt. Nun kommt die linke. Das Loch entspricht nicht dem Gelenk. Also nehmen sie einen Strick, binden ihn an das linke Gelenk und ziehen daran, bis die Knochen ausgerenkt und die Sehnen und Muskeln und die schon von den Stricken der Gefangennahme wunde Haut zerrissen sind. Auch die andere Hand leidet natürlich darunter, denn durch das Zerren vergrößert sich die Nagelwunde. Nun liegt das Loch gerade zwischen Handfläche und Handgelenk. Sie finden sich damit ab und schlagen den Nagel ein, wo sie können, zwischen dem Daumen und den anderen Fingern, genau in der Mitte der Handfläche. Hier dringt er leichter ein, ist jedoch schmerzhafter, denn er durchtrennt wohl wichtige Nerven, so dass die Finger nun unbeweglich sind, während die Finger der rechten Hand zittern und zucken als Beweis ihrer Beweglichkeit. Doch Jesus schreit nicht mehr. Er stöhnt nur noch heiser mit aufeinandergepreßten Lippen, und Tränen des Schmerzes rinnen zur Erde, nachdem sie zuerst auf das Holz getropft sind.

Nun sind die Füße an der Reihe. Ungefähr zwei Meter oder mehr vom Ende des Kreuzes entfernt ist ein kleiner Keil, kaum ausreichend für einen Fuß. Auf dieses Holz legen sie die Füße, um zu sehen, ob das Maß stimmt. Da es etwas zu weit unten ist und die Füße nicht ganz bis zu dem Keil reichen, ziehen sie den armen Märtyrer an den Knöcheln. Das rauhe Holz des Kreuzes scheuert an den Wunden, verrückt die Dornenkrone, die noch mehr Haare ausreißt und herunterzufallen droht... Ein Henker drückt sie ihm durch einen Schlag mit der Hand wieder auf das Haupt.

Nun rücken die Männer, die auf der Brust Jesu gesessen sind, auf die Knie hinunter, denn Jesus zieht unwillkürlich die Beine an, als er in der Sonne den langen Nagel glänzen sieht, der doppelt so lang und doppelt so dick wie die Nägel für die Hände ist. Sie setzen sich auf seine zerschundenen Knie und drücken auf die armen zerschlagenen Schienbeine, während die beiden anderen das viel schwierigere Unternehmen, einen Fuß über dem anderen anzunageln, beginnen. Dabei sollen auch die Gelenke an der Fußwurzel aufeinanderliegen.

Aber so sehr sie auch achtgeben und die Füße am Knöchel und an den Zehen gegen den Keil drücken, verschiebt sich doch der untere Fuß wegen der Erschütterung durch den Nagel, und sie müssen diesen wieder fast ganz herausziehen. Denn nachdem er durch die weicheren Teile gedrungen ist, muss er nun etwas weiter in der Mitte eingeschlagen werden. Und er ist beim Durchbohren des rechten Fußes schon stumpf geworden. Sie hämmern und hämmern und hämmern... Man hört nichts als den schrecklichen Klang des Hammers auf dem Kopf des Nagels, denn alle auf dem Kalvarienberg sind ganz Auge und Ohr und verfolgen gespannt jede Bewegung und jeden Laut, um sich daran zu ergötzen...

Die leise Klage einer Taube begleitet das harte Klingen des Eisens: das heisere Stöhnen Marias, die sich bei jedem Hammerschlag mehr zusammenkrümmt, als ob der Hammer auf sie, die Mutter-Märtyrerin, niedersausen würde. Und sie ist zu recht von dieser Tortur zutiefst erschüttert. Die Kreuzigung ist furchtbar. Wenn auch die großen Schmerzen denen der Geißelung gleichen, so ist sie doch schrecklicher anzusehen, denn man sieht den Nagel in das lebendige Fleisch eindringen. Aber dafür dauert sie nur kurz, während die Geißelung durch ihre Länge erschöpft hat.

Für mich sind die Todesangst am Ölberg, die Geißelung und die Kreuzigung die furchtbarsten Augenblicke. Sie enthüllen mir die ganze Qual des Christus. Der Tod ist für mich eine Erleichterung, denn ich sage mir: «Es ist vollbracht.» Doch diese Qualen sind nicht das Ende, sondern der Beginn neuer Leiden.

Nun schleifen sie das Kreuz zu dem Loch; es hüpft auf dem unebenen Boden und schüttelt den armen Gekreuzigten. Beim Aufrichten entgleitet es zweimal ihren Händen und fällt einmal auf die Rückseite, dass andere Mal auf die rechte Seite, was Jesus neue schreckliche Schmerzen bereitet, denn die plötzlichen Erschütterungen zerren an den verletzten Gliedern. Als sie aber dann das Kreuz in sein Loch fallen lassen, schwankt es, bevor sie es mit Steinen und Erde befestigen, samt dem an drei Nägeln daran hängenden armen Körper in alle Richtungen, und das Leiden muss unaussprechlich sein.

Das ganze Gewicht des Körpers hängt nach vorn und nach unten, und die Löcher der Wunden erweitern sich, besonders das der linken Hand. Auch die Wunden der Füße werden größer und das Blut fließt stärker. Während das Blut der Füße von den Zehen zu Boden tropft und am Balken des Kreuzes entlangrinnt, rinnt das Blut von den Händen, die sich in größerer Höhe befinden als die Schultern, über den Unterarm zu den Achseln und an den Rippen hinunter bis zum Gürtel. Die Dornenkrone verschiebt sich, als das Kreuz schwankt, bevor man es befestigt; denn das Haupt fällt nach hinten, und der Nacken schlägt mit dem dicken dornigen Knoten am Ende der stacheligen Krone auf das Holz. Dann rutscht sie wieder auf die Stirn zurück und kratzt und kratzt erbarmungslos.

Endlich ist das Kreuz befestigt, und es bleibt nur noch der Schmerz, angenagelt zu sein. Man richtet auch die Räuber auf, die, kaum dass sie sich in der Vertikalen befinden, brüllen, als ob sie lebendig gekocht würden, denn die Stricke, die in die Gelenke einschneiden, die Adern dick anschwellen und die Hände schwarz werden lassen, bereiten große Schmerzen. Jesus schweigt. Das Volk aber schweigt nicht mehr, sondern schreit noch teuflischer.

Nun hat der Gipfel des Golgotha sein Siegeszeichen und seine Ehrenwache. An der höchsten Erhebung das Kreuz Jesu. Zu beiden Seiten die Schächer. Die halbe Centurie der Soldaten mit ihren Waffen unten rings um den Gipfel, und in diesem Kreis von Bewaffneten die zehn Fußsoldaten, die mit Würfeln um die Kleider der Verurteilten spielen. Zwischen dem Kreuz Jesu und dem rechten Schächer steht Longinus. Es scheint, als würde er dem Märtyrer-König die Ehrenwache halten. Die andere halbe Centurie ist in Ruhestellung und wartet auf dem Feldweg links und auf dem unteren Platz auf einen Befehl des Adjutanten des Longinus, falls sie zu etwas gebraucht würden. Die Soldaten zeigen fast völlige Teilnahmslosigkeit. Nur ab und zu schaut einer zu den Gekreuzigten empor.

Longinus hingegen betrachtet alles neugierig und interessiert, vergleicht und zieht seine Schlüsse. Er betrachtet die Gekreuzigten, besonders Christus, und die Zuschauer. Seinem forschenden Auge entgeht nicht die geringste Einzelheit. Um besser sehen zu können, beschattet er die Augen mit der Hand, da ihn die Sonne sicher stört.

Es ist wirklich eine eigenartige Sonne, rot und gelb wie das Feuer eines Brandes. Dann scheint es, als ob das Feuer plötzlich erlöschen würde, denn eine pechschwarze Wolke steigt hinter den Bergen Judäas auf, zieht mit großer Geschwindigkeit über den Himmel und verschwindet hinter einem anderen Gebirge. Als die Sonne nun wieder erscheint, ist sie so grell, dass das Auge sie kaum erträgt.

Als er um sich schaut, sieht er direkt unterhalb des höchsten Punktes Maria, die ihr schmerzgequältes Gesicht zu ihrem Sohn erhebt. Er ruft einen der würfelnden Soldaten und sagt: «Wenn die Mutter und ihr Sohn, der sie begleitet, heraufkommen wollen, sollen sie es tun. Begleite sie und hilf ihr.»

Maria steigt mit Johannes, dem vermeintlichen Sohn, die in den Tuffstein gehauenen Stufen empor, geht durch die Absperrung der Soldaten und an den Fuß des Kreuzes. Aber sie bleibt in geringer Entfernung davon stehen, damit sie von Jesus gesehen wird und ihn auch selbst sieht. Das Volk überhäuft sie sofort mit den schmutzigsten Schmähungen und schließt sie in die Lästerungen gegen ihren Sohn mit ein. Aber sie, mit bebenden und blutleeren Lippen, versucht nur, ihn zu trösten durch ein schmerzliches Lächeln, dass Tränen überströmen, die kein noch so starker Wille in den Augen zurückhalten kann.

Das Volk, angefangen von den Priestern, den Schriftgelehrten, den Pharisäern, den Sadduzäern, den Herodianern und ähnlichen, hat seinen Spaß daran, wie bei einem Karussell den steilen Weg hinaufzusteigen, entlang der höchsten Erhebung zu gehen und dann auf der anderen Seite wieder hinunter, oder umgekehrt. Jedesmal, wenn sie am Fuß des Gipfels vorüberkommen, versäumen sie es nicht, dem Sterbenden zu Ehren lästerliche Worte hinaufzuschreien. Die ganze Schändlichkeit und Grausamkeit, der ganze Haß und Wahnsinn, deren die Zunge des Menschen fähig ist, wird hier ausgiebig von diesen höllischen Mäulern demonstriert. Die Erbarmungslosesten sind die Angehörigen des Tempels, unterstützt von den Pharisäern.

«Nun? Du Erlöser des Menschengeschlechtes, warum rettest du dich nicht? Hat dein König Beelzebub dich verlassen? Hat er dich verleugnet?» schreien drei Priester.

Und ein Schwarm Juden: «Du, der du vor kaum fünf Tagen mit Hilfe Satans den Vater hast sagen lassen... ha, ha, ha, dass er dich verherrlichen würde, warum erinnerst du ihn nicht daran, dass er sein Versprechen hält?»

Drei Pharisäer: «Gotteslästerer! Er sagt, er habe die anderen mit Gottes Hilfe gerettet. Und sich selbst kann er nicht retten! Du willst, dass man dir glaubt? So wirke doch ein Wunder! Du kannst es wohl nicht mehr? Nun haben wir dir die Hände angenagelt und dich entblößt.»

Einige Sadduzäer und Herodianer zu den Soldaten: «Vorsicht mit dem Zauber, ihr, die ihr seine Kleider genommen habt! Ein Zeichen der Hölle ist daran.»

Eine Volksmenge schreit: «Steige vom Kreuz, und wir werden dir glauben. Du, du willst den Tempel zerstören... Verrückter! ... Sieh ihn dir an, den herrlichen und heiligen Tempel Israels. Er ist unzerstörbar, du Schänder! Und du stirbst.»

Andere Priester sagen: «Gotteslästerer! Du willst der Sohn Gottes sein? Dann steige doch von dort herab! Zerschmettere uns, wenn du Gott bist. Wir fürchten dich nicht und spucken auf dich.»

Andere gehen vorüber und schütteln die Köpfe: «Er kann nur weinen! Rette dich doch, wenn es wahr ist, dass du der Erwählte bist!»

Die Soldaten: «So rette dich doch. Laß Feuer auf diesen Abschaum des Abschaums fallen! Ja, der Abschaum des Reiches seid ihr, jüdische Kanaillen! Tue es, und Rom wird dich auf das Kapitol erheben und dich wie einen Gott verehren!»

Die Priester mit ihrem Gefolge: «Die Arme der Frauen waren zarter als die des Kreuzes, nicht wahr? Aber schau, sie sind schon zu deinem Empfang bereit, deine... (und sie sagen ein häßliches Wort). Ganz Jerusalem steht dir zur Verfügung als Brautjungfer», und sie pfeifen wie Fuhrleute.

Andere werfen Steine: «Verwandle sie in Brot, du Brotvermehrer!»

Wieder andere äffen die Hosannarufe des Palmsonntags nach, werfen Zweige und schreien: «Verflucht sei, der da kommt im Namen des Teufels! Verflucht sei sein Reich! Ehre sei Sion, dass die Lebenden von ihm befreit!»

Ein Pharisäer stellt sich vor das Kreuz, erhebt die Faust, macht ein Horn, um Unheil abzuwenden, und sagt: «„Ich übergebe dich dem Gott des Sinai“, hast du einst gesagt. Nun bereitet dir der Gott des Sinai das höllische Feuer. Warum rufst du nicht Jonas, dass er dir den guten Dienst vergilt?»

Ein anderer: «Beschädige das Kreuz nicht mit den Schlägen deines Kopfes. Wir brauchen es noch für deine Jünger. Eine ganze Legion von ihnen wird noch an deinem Holz sterben, dass schwöre ich dir bei Jahwe! Als erster kommt Lazarus. Wir werden sehen, ob du ihn jetzt noch vor dem Tod rettest!»

«Ja! Ja! Gehen wir zu Lazarus! Nageln wir ihn an die andere Seite des Kreuzes!» Wie Papageien machen sie die langsame Redeweise Jesu nach und sagen: «Lazarus, mein Freund, komm heraus! Befreit ihn von den Binden und laßt ihn gehen.»

«Nein! Er hat zu Martha und Maria, seinen Weibern, gesagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Ha, ha, ha! Die Auferstehung kann den Tod nicht verjagen, und das Leben stirbt!»

«Dort sind Maria und Martha. Fragen wir sie, wo Lazarus ist, und dann gehen wir und holen ihn.» Sie gehen auf die Frauen zu und fragen sie frech: «Wo ist Lazarus? Im Palast?»

Maria Magdalena tritt auf sie zu, während die anderen entsetzt hinter die Hirten flüchten. In ihrem Schmerz kehrt die alte Dreistigkeit aus der Zeit ihrer Sünde wieder und sie ruft: «Geht nur! Ihr werdet im Palast römische Soldaten und fünfhundert Bewaffnete von meinen Feldern antreffen, die euch kastrieren werden wie alte Böcke, die zur Mahlzeit für die Sklaven an den Mühlen bestimmt sind.»

«Unverschämte! So redest du mit den Priestern?»

«Gotteslästerer! Schamlose! Verfluchte! Dreht euch um! Hinter euch, ich sehe es, lodern schon die Flammen des höllischen Feuers auf!»

Die Feiglinge wenden sich tatsächlich erschrocken um, denn Maria sagt dies mit so großer Sicherheit. Und wenn hinter ihnen auch keine Flammen sind, so doch die sehr spitzen Lanzen der Römer. Denn Longinus hat einen Befehl erteilt, und die halbe Centurie, die bisher inaktiv war, tut nun Dienst, indem sie die ersten, die ihr in den Weg geraten, in die Hinterbacken sticht. Diese fliehen schreiend auseinander, und die halbe Centurie bleibt, um die beiden Wege abzuriegeln und einen Wall um den Platz zu bilden. Die Juden fluchen, aber Rom ist stärker.

Magdalena läßt ihren Schleier, den sie zurückgeschlagen hatte, um den Beleidigern zu entgegnen, wieder herunter und kehrt an ihren Platz zurück. Auch die anderen Frauen kommen zu ihr zurück.

Doch der Räuber zur Linken setzt von seinem Kreuz aus die Beleidigungen fort. Es scheint, als wären alle Flüche der anderen in ihm angestaut, und er speit sie nun aus und fügt noch hinzu: «Rette dich und rette uns, wenn du willst, dass man dir glaubt. Du willst der Christus sein? Ein Irrer bist du! Die Welt gehört den Schlauen, und es gibt keinen Gott. Ich bin da. Das ist sicher, und mir ist alles erlaubt! Gott? ... Märchen! Das redet man uns ein, damit wir brav sind. Es lebe unser Ich! Unser Ich allein ist König und Gott!»

Der andere Räuber zur Rechten schaut Maria, die fast zu seinen Füßen steht, wohl noch mehr an als Jesus, weint seit einer Weile und flüstert: «Die Mutter!» Dann sagt er: «Schweig! Fürchtest du nicht einmal jetzt Gott, da du diese Strafe erleidest? Warum beleidigst du ihn, der gut ist? Er leidet noch mehr als wir, und er hat nichts Böses getan.»

Doch der Räuber fährt fort mit seinen Flüchen.

Jesus schweigt. Erschöpft durch seine Position, durch das Fieber und den Zustand seines Herzens und seiner Atmung als Folge der so heftigen Geißelung und der großen Todesangst, die ihn hat Blut schwitzen lassen, sucht er Erleichterung darin zu finden, dass er sich stärker an die Hände hängt, die Arme anspannt und so etwas Gewicht von den Füßen nimmt. Vielleicht tut er dies auch, um einen Krampf ein wenig abzuschwächen, der schon seine Füße befallen hat und sich in einem Zittern der Muskeln äußert. Aber dasselbe Zittern hat auch die Muskeln der Arme befallen, die in dieser Stellung übermäßig beansprucht sind. Die Hände müssen eiskalt sein, da sie am weitesten oben und nicht mehr durchblutet sind. Das Blut gelangt nur mit Mühe bis zu den Handgelenken, tropft dann aus den Löchern der Nägel und zirkuliert nicht mehr in den Fingern. Besonders die der linken Hand sind schon leichenblaß, reglos und nach innen gekrümmt. Auch die Zehen der Füße lassen ihre Qual erkennen – besonders die großen, deren Nerv vielleicht weniger verletzt ist – da sie sich heben und senken und sich spreizen.

Das ganze Leiden des Rumpfes zeigt sich in dem raschen, aber nicht tiefen Atem, der nur ermüdet und keine Erleichterung schafft. Der an sich schon breite und gewölbte Brustkasten – denn der Bau dieses Körpers ist vollkommen – ist nun über die Maßen ausgedehnt durch die Stellung des Körpers und das Lungenödem, dass sich gewiss schon gebildet hat. Doch trägt dies nicht dazu bei, die mühevolle Atmung zu erleichtern, und der ganze Unterleib unterstützt sie durch die Bewegungen des Zwerchfells, die jedoch immer schwächer werden. Die Kongestion und die Erstickung nehmen von Minute zu Minute zu, wie man an der zyanotischen Farbe erkennt, die die Fieberröte der Lippen noch betont, und an den blauvioletten Streifen am Hals, entlang den geschwollenen Adern, die sich bis über die Wangen und in Richtung der Ohren und Schläfen ziehen. Die Nase ist spitz und blutleer, die Augen sind eingesunken und umgeben von einem bläulichen Ring – soweit das herabtropfende Blut der Dornenkrone ihn nicht bedeckt.

Unter dem linken Rippenbogen sieht man das unregelmäßige, aber heftige Schlagen der Herzspitze, und hie und da das durch einen inneren Krampf ausgelöste starke Zittern des Zwerchfells, dass sich in der äußersten Ausdehnung der Haut zeigt, soweit sie sich noch ausdehnen kann an diesem armen verletzten, sterbenden Körper.

Das Antlitz hat schon den Ausdruck, den wir von den Fotografien des Grabtuchs kennen, mit der verunstalteten und auf einer Seite geschwollenen Nase. Auch das wegen der Schwellung auf dieser Seite fast geschlossene rechte Auge vergrößert die Ähnlichkeit noch. Der Mund hingegen ist geöffnet und die Verletzung an der Oberlippe nun von einer Kruste bedeckt.

Der durch den Blutverlust, dass Fieber und die Sonne verursachte Durst muss sehr groß sein, denn Jesus trinkt mit mechanischen Bewegungen die Tropfen seines Schweißes und seiner Tränen und auch die Blutstropfen, die von der Stirn in den Schnurrbart rinnen, und benetzt damit seine Zunge... Die Dornenkrone erlaubt ihm nicht, dass Haupt an das Kreuz anzulehnen, um mit den Armen mehr Kraft anzuwenden und die Füße zu entlasten. Die Nierengegend und das ganze Rückgrat wölben sich nach außen und sind vom Becken an aufwärts losgelöst vom Stamm des Kreuzes, entsprechend dem Trägheitsgesetz, dass einen auf diese Weise aufgehängten Körper nach vorne fallen läßt.

Die von dem kleinen Platz vertriebenen Juden hören nicht auf zu beschimpfen, und der unbußfertige Räuber macht mit. Der andere, der nun mit immer größerem Mitleid die Mutter betrachtet und weint, rügt ihn hart, als er hört, dass auch Maria beschimpft wird.

«Schweig! Erinnere dich, dass eine Frau dich geboren hat. Und vergiß nicht, dass unsere Mütter um ihre Söhne geweint haben. Es waren Tränen der Scham... weil wir Verbrecher sind. Unsere Mütter sind tot... Ich wünschte, ich könnte die meine um Verzeihung bitten... Aber könnte ich das? Sie war eine Heilige... Ich habe sie getötet durch den Schmerz, den ich ihr zugefügt habe... Ich bin ein Sünder... Wer verzeiht mir? Mutter, im Namen deines sterbenden Sohnes, bitte für mich!»

Die Mutter erhebt einen Augenblick ihr schmerzgequältes Gesicht und sieht diesen Unglücklichen an, der durch die Erinnerung an seine Mutter und die Betrachtung der Mutter Jesu zur Reue gelangt; und es scheint, als liebkose sie ihn mit ihrem Taubenblick.

Dismas weint nun stärker. Dies läßt den Hohn der Menge und des Gefährten noch zunehmen. Erstere schreit: «Bravo! Nimm dir die zur Mutter. Dann hat sie zwei Verbrecher als Söhne!» Und der andere ist noch schlimmer: «Sie liebt dich, weil du eine kleinere Ausgabe ihres Vielgeliebten bist.»

Jesus spricht nun zum ersten Mal: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!»

Dieses Gebet besiegt die letzte Angst des Dismas. Er wagt es nun, Jesus anzusehen, und sagt: «Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst. Es ist gerecht, dass ich leide. Aber gewähre mir Barmherzigkeit und Frieden im anderen Leben. Einmal habe ich dich reden gehört, und töricht wie ich war, habe ich dein Wort abgelehnt. Nun bereue ich es. Ich bereue auch meine Sünden vor dir, Sohn des Allerhöchsten. Ich glaube, dass du von Gott kommst. Ich glaube an deine Macht. Ich glaube an deine Barmherzigkeit. Christus, verzeih mir im Namen deiner Mutter und deines heiligsten Vaters!»

Jesus wendet sich um, schaut ihn mit tiefem Mitleid an und hat ein immer noch wunderschönes Lächeln auf seinem armen, gequälten Mund. Er antwortet ihm: «Ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.»

Der reuige Schächer beruhigt sich, und da er die Gebete seiner Kinderzeit vergessen hat, wiederholt er wie ein Stoßgebet: «Jesus von Nazareth, König der Juden, erbarme dich meiner. Jesus von Nazareth, König der Juden, ich hoffe auf dich. Jesus von Nazareth, König der Juden, ich glaube an deine Gottheit.»

Der andere flucht weiter.

Der Himmel wird immer dunkler. Nun reißen die Wolken nur noch selten auf, um die Sonne scheinen zu lassen. Sie häufen sich in immer dickeren, bleiernen, weißen und grünlichen Schichten, schieben sich übereinander und verteilen sich dann wieder, je nach dem Verhalten eines kalten Windes, der von Zeit zu Zeit über den Himmel fegt, danach über die Erde, und sich dann wieder legt. Und die Atmosphäre ist fast noch unheimlicher, drückender und lebloser wenn er schweigt, als wenn er stark und schneidend weht und pfeift.

Das zuerst überaus grelle Licht wird nun ganz fahl. Die Gesichter bekommen ein sonderbares Aussehen. In dem grünlichen Licht unter dem aschgrauen Himmel erscheinen die Profile der Soldaten in ihren zuvor glänzenden und nun matt gewordenen Helmen und Panzern wie aus Stein gemeißelt. Die Juden, in der Mehrzahl braunhäutig mit braunem Haar und Bart, gleichen Ertrinkenden, so fahl sind ihre Gesichter. Die Frauen werden zu Statuen aus bläulich schimmerndem Schnee, denn das Licht verstärkt noch ihre große Blässe.

Auch Jesus scheint auf seltsame Weise bläulich zu werden, als würde die Auflösung schon beginnen, fast als wäre er schon gestorben. Das Haupt beginnt auf die Brust herabzuhängen. Die Kräfte lassen rasch nach. Er zittert trotz des Fiebers, dass in ihm brennt. In seiner Schwäche flüstert er den Namen, den er bisher nur in seinem Herzen gesprochen hat: «Mama! Mama!» Er flüstert ihn so leise wie einen Seufzer, als würde ein leichtes Delirium es ihm schon unmöglich machen, dass zurückzuhalten, was der Wille nicht preisgeben möchte. Maria streckt jedesmal spontan die Arme aus, als wolle sie ihm zu Hilfe eilen.

Das grausame Volk lacht über diese Qualen des Sterbenden und der leidenden Mutter. Die Priester und Schriftgelehrten steigen wieder zu den Hirten hinauf, die sich auf dem unteren Platz befinden. Und da die Soldaten sie zurückdrängen wollen, wehren sie sich und sagen: «Diese Galiläer bleiben hier? Dann bleiben auch wir hier, denn wir müssen uns vergewissern, dass bis zum Ende Gerechtigkeit geübt wird. Und aus der Ferne können wir bei dem eigenartigen Licht nichts erkennen.»

Viele fangen nun tatsächlich an, sich über das Licht zu wundern, dass die Welt einhüllt, und einige haben Angst. Auch die Soldaten zeigen zum Himmel und auf eine Art Kegel, der aus Schiefer zu sein scheint und sich wie eine Pinie hinter einem Gipfel erhebt. Es scheint eine Wasserhose zu sein. Sie steigt immer höher, und es sieht aus, als ob sie immer schwärzere Wolken hervorbringen würde, fast wie ein Vulkan, der Rauch und Lava speit.

In diesem beängstigenden Dämmerlicht übergibt Jesus seine Mutter Johannes und Johannes seiner Mutter. Er neigt das Haupt, denn Maria ist direkt unter das Kreuz getreten, um ihn besser zu sehen, und sagt: «Frau, siehe da deinen Sohn. Sohn, siehe da deine Mutter.»

Marias Gesicht ist noch betrübter nach diesen Worten, die das Testament ihres Jesus sind, ihres Jesus, der seiner Mutter nichts geben kann als einen Menschen, er, der ihr aus Liebe zu den Menschen den aus ihr geborenen Gottmenschen nimmt. Doch die arme Mutter versucht, nur stumm zu weinen... denn sie bringt es nicht fertig, nicht zu weinen. Die Tränen fließen trotz aller Bemühungen, sie zurückzuhalten, auch wenn der Mund dabei unter Qualen lächelt, immer lächelt für ihn, um ihn zu trösten...

Die Leiden werden immer größer, während das Licht immer mehr abnimmt.

In diesem bläulichen Licht kommen plötzlich hinter den Juden Nikodemus und Joseph hervor und sagen: «Macht Platz!»

«Das geht nicht. Was wollt ihr?» entgegnen die Soldaten.

«Wir wollen durch. Wir sind Freunde des Christus.»

Die Köpfe der Priester fahren herum. «Wer wagt es hier, sich als Freund des Rebellen zu bekennen?» fragen sie entrüstet.

Joseph erwidert energisch: «Ich, ein erlauchtes Mitglied des Hohen Rates, Joseph von Arimathäa, der Älteste, und bei mir ist Nikodemus, Vorsteher der Juden.»

«Wer zu dem Rebellen hält, ist selbst ein Rebell.»

«Und wer zu den Mördern hält, ist selbst ein Mörder, Eleazar des Annas. Ich habe als Gerechter gelebt. Nun bin ich alt und dem Tod nahe. Ich will nicht ungerecht werden, während schon der Himmel auf mich herabkommt und mit ihm der ewige Richter.»

«Und du, Nikodemus! Ich wundere mich!»

«Ich auch. Und nur über eines: dass Israel so verdorben ist, dass es Gott nicht mehr erkennt.»

«Du ekelst mich an.»

«Dann tritt zur Seite und laß mich durch. Ich verlange nur das.»

«Um dich noch mehr zu verunreinigen?»

«Wenn ich dadurch nicht unrein geworden bin, dass ich in eurer Nähe war, dann kann mich nichts mehr verunreinigen. Soldat, hier ist der Passierschein und eine Börse für dich.» Und er gibt dem am nächsten stehenden Decurio einen Beutel und eine Wachstafel.

Der Decurio prüft sie und sagt zu den Soldaten: «Laßt die beiden durch.»

Joseph und Nikodemus gehen zu den Hirten. Ich weiß nicht, ob Jesus sie in dieser immer größeren Dunkelheit mit den sich im Todeskampf trübenden Augen noch sehen kann. Aber sie sehen ihn und weinen, ohne sich vor den Menschen zu schämen, obgleich sich nun die Schmähungen der Priester über sie ergießen.

Die Leiden werden immer stärker. Der Körper krümmt sich in den ersten Anzeichen des Wundstarrkrampfes, und jedes neue Geschrei der Menge verschlimmert dies noch. Der Tod der Nerven und der Muskeln in den gemarterten Gliedern greift nun über auf den Rumpf, und die Atmung wird immer schwieriger, die Kontraktionen des Zwerchfells immer schwächer und die Herztätigkeit immer unregelmäßiger. Das Antlitz Jesu wechselt zwischen flammender Röte und der grünlichen Blässe eines an Ausblutung Sterbenden. Der Mund bewegt sich immer mühsamer, denn die überbeanspruchten Nerven und Muskeln des Halses und des Kopfes, die so viele Male als Hebel für den ganzen Körper dienen und sich gegen den Querbalken des Kreuzes stemmen mussten, übertragen nun den Krampf auf den Kiefer. Die von dem angestauten Blut in den Schlagadern geschwollene Kehle muss schmerzen und ihr Ödem auch auf die Zunge übertragen. Sie erscheint verdickt und bewegt sich nur langsam. Die Wirbelsäule wölbt sich immer stärker nach vorne – auch dann, wenn die Kontraktionen des Starrkrampfes sie nicht zu einem vollständigen Bogen vom Hals bis zu den Hüften spannen, wobei dann nur noch diese beiden Extreme den Stamm des Kreuzes berühren – denn die Glieder werden durch das Gewicht des toten Fleisches immer schwerer.

Die Leute sehen all dies nur schlecht oder undeutlich, denn der Himmel ist nun ein dunkles Aschgrau. Nur wer am Fuß des Kreuzes steht, kann es erkennen.

Auf einmal fällt Jesus vor und nach unten, so als sei er schon tot. Er keucht nicht mehr. Sein Kopf hängt herunter und der Körper hat sich von den Hüften an aufwärts ganz vom Kreuz gelöst und bildet einen Winkel zum Querbalken.

Maria schreit auf: «Er ist tot!» Ein tragischer Schrei, der durch die Dunkelheit hallt. Jesus scheint wirklich tot zu sein.

Der Schrei einer anderen Frau antwortet, und ich sehe ein Durcheinander in der Gruppe der Frauen. Dann entfernen sich etwa zehn Personen, die etwas tragen. Aber ich kann nicht sehen, wer sich entfernt. Das trübe Licht ist zu schwach. Es scheint, als ob alles in eine sehr dichte Wolke vulkanischer Asche gehüllt wäre.

«Das ist nicht möglich!» schreien die Priester und die Juden. «Man versucht nur, uns zu täuschen, damit wir fortgehen. Soldat, stich ihn mit der Lanze. Das ist eine gute Arznei, um ihm die Stimme wiederzugeben.»Und da die Soldaten es nicht tun, fliegen Steine und Erdschollen auf das Kreuz und treffen den Märtyrer und die Harnische der Römer.

Die Arznei, wie die Juden es ironisch nennen, wirkt das Wunder. gewiss hat der eine oder andere Stein genau getroffen, vielleicht die Wunde einer Hand oder sogar das Haupt Jesu, denn sie haben nach oben gezielt. Jesus stöhnt mitleiderregend und kommt wieder zum bewusstsein. Der Oberkörper beginnt erneut mühsam zu atmen, und der Kopf wendet sich von links nach rechts auf der Suche nach einer Position, die weniger schmerzt, doch er findet sie nicht und vermehrt nur die Schmerzen.

Mit großer Mühe stützt Jesus sich noch einmal auf die gequälten Füße – nur in seinem Willen findet er die Kraft dazu, nur darin – richtet sich am Kreuz auf, als wäre er gesund und ganz bei Kräften, erhebt das Antlitz und betrachtet mit weit offenen Augen die Welt zu seinen Füßen, die ferne Stadt, ein kaum sichtbarer weißer Schimmer in der Dunkelheit, und den schwarzen Himmel, von dem alles Blau und jede Spur von Licht verschwunden ist. Durch die Kraft seines Willens und in der Not seiner Seele überwindet Jesus das Hindernis des versteiften Kiefers, der verdickten Zunge und der ödematösen Kehle und ruft mit lauter Stimme zu diesem verschlossenen, undurchdringlichen, niedrigen Himmel, der einer riesigen dunklen Schiefertafel gleicht, hinauf: «Eloi, Eloi, lama sabachtani!»

Jesus muss sich sterben und absolut vom Himmel verlassen fühlen, wenn er mit einer solchen Stimme bekennt, dass ihn der Vater verlassen hat.

Das Volk lacht und verspottet ihn. Es schmäht: «Gott weiß mit dir nichts anzufangen. Die Dämonen sind von Gott verflucht.»

Andere rufen: «Nun werden wir sehen, ob Elias, den er ruft, ihn rettet.»

Und wieder andere: «Gebt ihm etwas Essig, damit er gurgeln kann. Das ist gut für die Stimme! Elias oder Gott – denn es ist nicht sicher, wen der Irre ruft – ist weit entfernt. Da braucht es eine starke Stimme, damit man gehört wird», und sie lachen wie Hyänen oder Dämonen.

Aber kein Soldat gibt Essig, und niemand kommt vom Himmel, um zu trösten. Es ist die einsame, totale, grausame, auch übernatürlich grausame Agonie des großen Opfers.

Die Flut trostlosesten Schmerzes, die ihn schon in Gethsemane überwältigt hat, kehrt wieder, und mit ihr die Wogen der Sünden der ganzen Welt, die den unschuldigen Schiffbrüchigen mit ihrer Bitterkeit überfluten. Vor allem kehrt das Gefühl wieder – das ihn mehr kreuzigt als das Kreuz selbst und mehr quält als jede andere Qual – dass Gott ihn verlassen hat und das Gebet nicht zu ihm aufsteigt...

Es ist die letzte Qual. Die Qual, die den Tod beschleunigt, da sie die letzten Tropfen Blut aus den Poren preßt und die letzten Fasern des Herzens zerreißt und herbeiführt, was durch die erste Erkenntnis dieser Verlassenheit begonnen hat: den Tod. Denn daran ist mein Jesus vor allem gestorben, o Gott, der du ihn unseretwegen geschlagen hast!

Was wird aus dem Menschen, wenn du ihn verläßt, wenn du ihn verlassen hast? Er verliert den Verstand oder er stirbt. Jesus konnte den Verstand nicht verlieren, denn seine Intelligenz war göttlich; und da die Intelligenz geistig ist, siegte sie über das totale Trauma des von Gott Getroffenen. Also starb er: der Tote, der heiligste Tote, der unschuldigste Tote. Tot, er, der das Leben war. Getötet durch das Verlassensein von dir und von unseren Sünden.

Die Dunkelheit wird immer undurchdringlicher. Jerusalem verschwindet gänzlich. Selbst der Kalvarienberg scheint sich aufzulösen. Nur der Gipfel ist zu sehen, als würde ihn die Finsternis tragen, um das einzige und letzte verbleibende Licht zu sammeln und es wie ein Opfer mit seiner göttlichen Siegesbeute auf einen See von flüssigem Onyx zu legen, damit es von der Liebe und vom Haß gesehen werden kann.

Und aus dem Licht, dass nicht mehr Licht ist, erklingt die klagende Stimme Jesu: «Mich dürstet!»

Es weht auch wirklich ein Wind, der selbst die Gesunden durstig werden läßt. Ein ständiger Wind, der jetzt stürmisch, voller Staub, kalt und beängstigend ist. Ich denke daran, welchen Schmerz dieser Wind mit seinem heftigen Wehen der Lunge, dem Herzen, dem Rachen und den eiskalten, gequälten verwundeten Gliedern Jesu bereiten muss. Alles hat sich verschworen, den Märtyrer zu quälen.

Ein Soldat geht zu einem Gefäß, in das die Gehilfen des Henkers Essig und Galle getan haben, die mit ihrer Bitterkeit den Speichelfluß der Hingerichteten vermehren sollen. Er nimmt den in die Flüssigkeit getauchten Schwamm, steckt ihn auf ein dünnes, aber steifes Rohr, dass schon dafür bereitsteht, und reicht ihn dem Sterbenden. Jesus wendet sich begierig dem Schwamm zu. Er gleicht einem hungernden Kind, dass die Brust der Mutter sucht.

Maria, die es sieht und gewiss ebenso denkt, lehnt sich an Johannes und seufzt: «Oh, und ich kann ihm nicht einmal eine Träne geben... Oh, meine Brust, warum hast du keine Milch? Oh, mein Gott, warum, warum verläßt du uns so? Ein Wunder für mein Kind! Wer hebt mich hinauf, damit ich ihn mit meinem Blut tränke, da ich keine Milch habe...?»

Jesus, der gierig die scharfe, bittere Flüssigkeit eingesaugt hat, wendet angewidert den Kopf ab. Die Flüssigkeit muss vor allem eine ätzende Wirkung auf die wunden und rissigen Lippen haben. Er zieht sich zurück, sinkt in sich zusammen, gibt auf.

Das ganze Gewicht des Körpers fällt nun vor und auf die Füße. Und die durchbohrten Hände und Füße müssen den furchtbaren Schmerz erleiden, dass unter dem Gewicht des aufgegebenen Körpers ihre Wunden auseinanderklaffen und sich vergrößern. Keine Bewegung mehr, um diesen Schmerz zu lindern. Der Leib ist vom Becken an aufwärts vom Kreuz losgelöst und bleibt so.

Der Kopf hängt so schwer nach vorn, dass der Hals an drei Stellen ausgehöhlt zu sein scheint, an der Kehle und rechts und links des Kopfwender-Muskels. Das Atmen wird immer beschwerlicher und stockt von Zeit zu Zeit. Es ist schon mehr ein unterbrochenes Röcheln als ein Atmen. Ab und zu bringt ein schmerzlicher Hustenanfall einen leicht rosafarbenen Schaum auf die Lippen. Der Abstand zwischen dem Ein- und Ausatmen wird immer länger. Der Unterleib ist schon reglos. Nur die Brust hebt sich noch langsam und mühsam... Die Lungenlähmung nimmt unaufhaltsam zu.

Immer schwächer, wie eine kindliche Klage, erklingt der Ruf: «Mama!»Und die Arme flüstert: «Ja, mein Kleinod, ich bin hier!» Als sich ihm die Augen trüben, sagt er: «Mama, wo bist du? Ich kann dich nicht mehr sehen. Hast auch du mich verlassen?» Und es sind keine Worte mehr, sondern nur noch ein kaum hörbares Flüstern für den, der mehr mit dem Herzen als mit den Ohren jeden Seufzer des Sterbenden vernimmt. Und Maria antwortet: «Nein, nein, Sohn! Ich verlasse dich nicht! Höre mich, Lieber... Die Mama ist hier, hier ist sie... und ihr einziges Leid ist, dass sie nicht dorthin kommen kann, wo du bist ...»

Es ist herzzerreißend... und Johannes weint ganz offen. Jesus muss dieses Weinen hören, aber er sagt nichts. Ich nehme an, dass der eintretende Tod ihn wie im Delirium reden läßt, so dass er nicht mehr weiß, was er sagt, und nicht mehr den mütterlichen Trost und die Liebe des Lieblingsjüngers empfinden kann.

Longinus hat unbemerkt seine Ruhestellung mit den über der Brust verschränkten Armen und dem etwas vorgestellten Bein – einmal das eine, einmal das andere, um das lange Warten im Stehen etwas zu erleichtern – aufgegeben. Er steht nun stramm, die linke Hand am Schwert, die rechte gerade an der Seite, als ob er an den Stufen des kaiserlichen Thrones stehen würde, und will kein Mitleid zeigen. Aber sein Gesicht verändert sich in dem Bemühen, seine Rührung zu unterdrücken, und in seinen Augen glänzen Tränen, die nur seine eiserne Disziplin zurückhalten kann.

Die anderen, die würfelspielenden Soldaten, haben aufgehört, sind aufgestanden, haben ihre Helme, die ihnen als Würfelbecher gedient haben, wieder aufgesetzt und stehen nun schweigend und in Habachtstellung in einer Gruppe bei den aus dem Tuffstein gehauenen Stufen. Die übrigen sind bereits im Dienst und können ihre Stellung nicht ändern. Sie gleichen Statuen. Doch einer, der am nächsten steht und die Worte Marias hört, murmelt etwas zwischen den Zähnen und schüttelt den Kopf.

Tiefes Schweigen. Dann ganz klar und deutlich in der totalen Finsternis das Wort: «Es ist vollbracht.» Der Sterbende röchelt immer stärker, und der Abstand zwischen einem Röcheln und dem anderen wird immer länger.

Die Zeit verrinnt in diesem angstvollen Rhythmus. Das Leben kehrt zurück, wenn das rauhe Atmen des Sterbenden die Luft erfüllt... Das Leben schwindet, wenn man diesen schmerzlichen Klang nicht mehr hört.

Man leidet, wenn man ihn hört... Man leidet, wenn man ihn nicht hört... Man sagt: «Genug dieser Leiden!» und man sagt: «0 Gott, es wird doch nicht der letzte Seufzer sein!»

Die Marien weinen alle, dass Haupt an die Erde des Hanges gelehnt.

Und man hört ihr Weinen deutlich, denn das ganze Volk schweigt nun, um das Keuchen des Sterbenden zu vernehmen.

Wieder eine tiefe Stille. Dann, mit unendlicher Sanftmut und wie ein flehentliches Gebet, die Bitte: «Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist!»

Und wieder Schweigen. Auch das Röcheln wird leiser. Kaum ein Hauch vom Hals zu den Lippen.

Dann schließlich der letzte Krampf Jesu. Ein furchtbarer Krampf, der den mit den drei Nägeln an das Holz gehefteten Körper losreißen zu wollen scheint, läuft dreimal von den Füßen bis zum Kopf und durch alle die armen, gequälten Nerven, hebt dreimal den Unterleib auf unnatürliche Art und läßt ihn dann wieder sinken; nachdem er ihn aufgebläht hat wie bei einer Verstimmung der Eingeweide, fällt er zurück und sinkt ein, als wäre er leer. Den Oberkörper hebt er, bläht ihn auf und zieht ihn dann wieder so heftig zusammen, dass die Haut zwischen den stark hervortretenden Rippen verschwindet und die Geißelwunden sich erneut öffnen. Das Haupt wird einmal, zweimal, dreimal heftig zurückgeworfen und schlägt hart gegen das Holz. Alle Gesichtsmuskeln verkrampfen sich und ziehen sich zusammen, was noch die Verzerrung des Mundes nach rechts betont. Die Augen sind stark geweitet, und man sieht die Augäpfel kreisen und die Sklera erscheinen. Der ganze Körper spannt sich an, und beim letzten der drei Krämpfe ist er ein gespannter, zitternder, furchtbar anzusehender Bogen. Dann zerreißt ein gewaltiger, für diesen erschöpften Körper unvorstellbarer Schrei die Stille, der «große Schrei», von dem die Evangelien berichten und der die erste Hälfte des Wortes «Mama» ist ... Und dann nichts mehr...

Das Haupt fällt wieder auf die Brust, der Körper nach vorn. Das Zittern hört auf, der Atem ebenfalls. Jesus ist verschieden.

Die Welt antwortet auf den Schrei des Getöteten mit einem furchterregenden Getöse. Es scheint, als würden Tausende von Riesenmäulern ein einziges Brüllen ausstoßen. Und über diesem schrecklichen Akkord der ohrenbetäubende Lärm der einzelnen Blitze, die in alle Richtungen über den Himmel und auf die Stadt, den Tempel und die Menge herniederfahren... Es müssen Menschen vom Blitz erschlagen worden sein, denn das Volk ist direkt betroffen. Die Blitze sind das einzige sporadische Licht, dass mir erlaubt zu sehen.

Und dann plötzlich, während die Entladungen der Blitze noch andauern, wird die Erde von einem zyklonartigen Wirbelsturm geschüttelt. Erdbeben und Sturm verbinden sich zu einer apokalyptischen Strafe für die Gotteslästerer. Der Gipfel des Golgotha bebt und wankt wie ein Teller in der Hand eines Irren bei den heftigen kurzen oder auch wellenartigen Stößen, die die drei Kreuze derart schütteln, dass man glaubt, sie müßten umfallen.

Longinus, Johannes und die Soldaten halten sich fest, wo sie können und wie sie können, um nicht umzufallen. Johannes umfängt mit einem Arm das Kreuz und hält mit dem anderen Maria, die sich in ihrem Schmerz und wegen des Schwankens an seine Brust fallen läßt. Die anderen Soldaten, besonders die auf der steil abfallenden Seite, haben sich in die Mitte geflüchtet, um nicht über den Fels hinabzustürzen. Die Räuber schreien vor Schreck, die Menge schreit noch lauter und möchte fliehen, aber sie kann nicht. Einer fällt über den anderen, sie treten sich, stürzen in die Risse des Erdbodens, verletzen sich und rollen den Hang hinunter, wie von Sinnen.

Dreimal wiederholen sich Erdbeben und Sturmwind; dann herrscht die vollkommene Reglosigkeit einer toten Welt. Nur Blitze, auf die jedoch kein Donner folgt, fahren noch über den Himmel und beleuchten die Szene der in alle Richtungen fliehenden Juden. Sie fliehen, raufen sich die Haare, strecken die Hände vor sich aus oder zum Himmel, den sie bis jetzt verachtet haben und nun fürchten. Ein Lichtschimmer durchdringt die Finsternis und läßt mich zusammen mit den lautlosen magnetischen Blitzen erkennen, dass viele am Boden liegen: tot oder bewusstlos, ich weiß es nicht. Ein Haus brennt innerhalb der Mauern, und die Flammen steigen senkrecht auf in der ruhigen Luft und bilden einen feurigroten Punkt in dem grüngrauen Dunst.

Maria hebt das Haupt von der Brust des Johannes und schaut zu ihrem Jesus auf. Sie ruft ihn, denn sie kann bei dem schwachen Licht mit ihren armen Augen voller Tränen nur schlecht sehen. Dreimal ruft sie: «Jesus! Jesus! Jesus!» Es ist das erste Mal, dass sie ihn beim Namen ruft, seit sie auf dem Kalvarienberg ist. Endlich sieht sie ihn im Licht eines Blitzes, der eine Art Krone über dem Gipfel des Golgotha bildet. Reglos, ganz nach vorn hängend, mit so tief und zur rechten Seite geneigtem Haupt, dass es mit der Wange die Schulter und mit dem Kinn die Rippen berührt, und sie versteht. Sie streckt die in der dunklen Luft zitternden Arme aus und schreit: «Mein Sohn! Mein Sohn! Mein Sohn!» Dann horcht sie... Sie hat den Mund geöffnet, als wollte sie auch mit diesem hören, wie sie auch die Augen weit geöffnet hat, um zu sehen, zu sehen... Sie kann nicht glauben, dass ihr Sohn nicht mehr ist...

Johannes, der ebenfalls geschaut und gelauscht und verstanden hat, dass alles zu Ende ist, umarmt Maria und versucht, sie wegzuführen mit den Worten: «Er leidet nicht mehr.»

Doch bevor der Apostel den Satz beendet hat, befreit sich Maria, die nun auch verstanden hat, aus seinem Arm, dreht sich um, krümmt sich fast bis zum Boden, schlägt die Hände vor die Augen und schreit: «Ich habe keinen Sohn mehr!»

Dann wankt sie und würde fallen, wenn Johannes sie nicht auffangen und an sein Herz drücken würde. Er setzt sich auf den Boden, um sie besser halten zu können, bis die Marien, die nun nicht mehrvon dem oberen Ring der Bewaffneten zurückgehalten werden, den Apostel bei der Mutter ablösen. Denn seit die Juden geflohen sind, stehen die Römer alle zusammen auf dem unteren Platz und machen ihre Kommentare über das Vorgefallene.

Magdalena setzt sich an die Stelle, an der Johannes gesessen ist, und nimmt Maria fast auf den Schoß, hält sie in den Armen an ihrer Brust, küßt das blutleere, an die barmherzige Schulter gelehnte Gesicht. Martha und Susanna befeuchten ihr mit einem in Essig getauchten Schwamm und einem Tuch die Schläfen und die Nasenlöcher, während die Schwägerin Maria die Hände küßt und sie verzweifelt beim Namen ruft; und als Maria die Augen öffnet und benommen vor Schmerz um sich schaut, sagt sie: «Kind, mein liebes Kind, hör zu... Sage mir, dass du mich siehst... Ich bin deine Maria... Schau mich nicht so an...!» Und als das erste Schluchzen aus der Kehle Marias dringt und die ersten Tränen fallen, sagt sie, die gute Maria des Alphäus: «Ja, ja, weine nur... Hier bei mir, wie bei einer Mutter, mein armes, heiliges Kind!» Als sie sagen hört: «Oh, Maria! Maria, hast du gesehen?», da stöhnt sie: «Ja, ja... aber... aber Kind... Oh, Kind...!» Sie weiß nichts anderes zu sagen und weint, die alte Maria. Ein trostloses Weinen, in das alle anderen einstimmen, also Martha und Maria, die Mutter des Johannes und Susanna.

Die anderen frommen Frauen sind nicht mehr da. Ich nehme an, dass sie fortgegangen sind, und ebenso die Hirten, als man den Schrei der Frau gehört hat...

Die Soldaten schwatzen miteinander.

«Hast du die Juden gesehen? Nun haben sie aber Angst bekommen.»

«Sie haben sich an die Brust geschlagen.»

«Die Priester sind am meisten erschrocken.»

«Welch ein Schreck! Ich habe schon andere Erdbeben erlebt, aber so eines noch nie. Sieh nur, der Boden ist voller Risse.»

«Dort ist ein Teil der langen Straße abgerutscht.

«Dort unten liegen Leichen.»

«Laß sie nur. Einige Schlangen weniger!»

«Oh, noch ein Brand! Auf dem Feld ...»

«Aber ist er wirklich tot?»

«Siehst du es denn nicht? Hast du noch Zweifel?»

Joseph und Nikodemus kommen hinter dem Felsen hervor. Sicher haben sie sich dorthin in den Schutz des Berges geflüchtet, um sich vor den Blitzen zu retten. Sie gehen zu Longinus: «Wir wollen den Leichnam haben.»

«Nur der Prokonsul kann das erlauben. Geht und beeilt euch, denn ich habe gehört, dass die Juden zum Prätorium gehen wollten, um das Zerbrechen der Knochen zu fordern. Ich möchte nicht, dass dies geschieht.»

«Woher weißt du das?»

«Eine Meldung des Fähnrichs. Geht. Ich warte.»

Die beiden eilen den steilen Weg hinunter und verschwinden.

Nun begibt sich Longinus zu Johannes und sagt leise etwas zu ihm, was ich nicht verstehe. Dann läßt er sich von einem Soldaten eine Lanze reichen. Er schaut die Frauen an, die sich um Maria bemühen, die langsam wieder zu Kräften kommt. Sie drehen alle dem Kreuz den Rücken zu.

Longinus stellt sich vor das Kreuz, zielt gut und stößt zu. Die breite Lanze dringt tief von unten nach oben und von rechts nach links ein.

Johannes kämpft mit sich zwischen, dem Wunsch zu sehen und der Angst zu sehen und wendet einen Augenblick das Gesicht ab.

«Es ist geschehen, Freund», sagt Longinus und fügt hinzu: «Besser so, wie bei einem Ritter. Und ohne die Gebeine zu zerbrechen... Er war wirklich ein Gerechter!»

Aus der Wunde quillt viel Wasser und kaum ein wenig Blut, dass schon gerinnt. Quillt, habe ich gesagt. Es rinnt nur langsam aus dem glatten reglosen Schnitt, der sich öffnen und schließen würde, wenn der Atem den Brustkorb noch bewegen würde...

Während der tragische Anblick des Kalvarienberges unverändert bleibt, hole ich Joseph und Nikodemus ein, die auf einer Abkürzung hinuntersteigen, um rascher ans Ziel zu gelangen.

Sie sind beinahe am Fuß des Berges angekommen, als sie Gamaliel begegnen. Einem ungekämmten Gamaliel, ohne Kopfbedeckung, ohne Mantel, dass herrliche Gewand mit Erde beschmutzt und von Dornen zerrissen. Einem Gamaliel, der eilenden Schrittes und keuchend hinaufläuft, die Hände in den schütteren, stark ergrauten Haaren, die ihn als alten Mann kennzeichnen. Sie reden ohne stehenzubleiben.

«Gamaliel! Du?»

«Du, Joseph? Du verläßt ihn?»

«Nein. Aber weshalb bist du hier? Und in diesem Zustand ...?»

«Furchtbares ist geschehen! Ich war im Tempel! Das Zeichen! Der Tempel ist aus den Fugen geraten! Der Vorhang aus Purpur und Hyazinth ist zerrissen! Das Allerheiligste ist enthüllt! Der Fluch ist über uns!»Während er gesprochen hat, ist er weitergelaufen, wie von Sinnen über den Beweis.

Die beiden schauen ihm nach... Sie schauen sich an und sagen dann gleichzeitig: «„Diese Steine werden bei meinen letzten Worten erbeben.“ Er hatte es ihm versprochen...!»

Sie beschleunigen ihre Schritte in Richtung zur Stadt.

Über die Felder zwischen dem Berg und den Mauern und noch weiter weg irren in der noch dunstigen Luft Menschen mit verstörten Gesichtern... Rufe, Klagen, Weinen... Die einen sagen: «Sein Blut hat Feuer regnen lassen!» Andere: «Zwischen den Blitzen ist Jahwe erschienen und hat den Tempel verflucht!» Wieder andere stöhnen: «Die Gräber! Die Gräber!»

Joseph packt einen, der den Kopf an die Mauer schlägt, ruft ihn beim Namen und zieht ihn mit sich, während er in die Stadt hineingeht: «Simon, aber was sagst du da?»

«Laß mich! Auch du bist ein Toter! Alle sind tot! Alle sind herausgekommen! Und alle verfluchen mich!»

«Er ist verrückt geworden», sagt Nikodemus.

Sie lassen ihn laufen und gehen weiter zum Prätorium.

Die Stadt ist eine Beute des Schreckens. Herumirrende Menschen schlagen sich an die Brust. Andere springen zurück oder wenden sich entsetzt um, wenn sie hinter sich eine Stimme oder einen Schritt hören.

Unter einem der vielen finsteren Bögen läßt die Gestalt des Nikodemus in seinem weißen Wollgewand – denn um rascher gehen zu können, hat er auf dem Golgotha den dunklen Mantel abgelegt – einen fliehenden Pharisäer einen Schreckschrei ausstoßen. Als er dann erkennt, dass es Nikodemus ist, hängt er sich in einem sonderbaren Gefühlserguß an seinen Hals und schreit: «Verfluche mich nicht! Meine Mutter ist mir erschienen und hat mir gesagt: „Sei verflucht in alle Ewigkeit“.» Dann wirft er sich zu Boden und stöhnt: «Ich habe Angst! Ich habe Angst!»

«Sind sie denn alle verrückt geworden?» sagen die beiden.

Das Prätorium ist erreicht. Erst hier erfahren Joseph und Nikodemus den Grund so großen Schreckens, während sie darauf warten, vom Prokonsul empfangen zu werden. Viele Gräber haben sich während des Erdbebens geöffnet, und es gibt einige, die schwören, die Skelette herauskommen gesehen zu haben; einen Augenblick lang haben sie wieder menschliches Aussehen angenommen, die Schuldigen des Gottesmordes angeklagt und sie verflucht.

Ich lasse sie im Atrium des Prätoriums, in das die beiden Freunde Jesu, ohne törichten Widerwillen und Furcht, sich zu verunreinigen, eintreten, kehre zum Kalvarienberg zurück und hole Gamaliel ein, der nun völlig erschöpft die letzten Meter zum Gipfel hinaufsteigt. Dabei schlägt er sich unablässig an die Brust, und als er den unteren Platz erreicht, wirft er sich in seiner ganzen weißen Länge auf den gelblichen Erdboden und klagt: «Das Zeichen! Das Zeichen! Sage mir, dass du mir verzeihst! Ein Seufzer, nur ein Seufzer, um mir zu sagen, dass du mich hörst und mir verzeihst.»

Ich verstehe, dass Gamaliel glaubt, Jesus sei noch am Leben. Er glaubt es so lange, bis ein Soldat ihn mit der Lanze berührt und sagt: «Steh auf und sei still. Es nützt nichts mehr. Du hättest es dir früher überlegen sollen. Er ist tot. Und ich, ein Heide, sage dir: Dieser, den ihr gekreuzigt habt, war wahrhaft Gottes Sohn!»

«Tot? Tot bist du? Oh!» Gamaliel erhebt das zutiefst erschrockene Antlitz und versucht, im Dämmerlicht den Gipfel zu erkennen. Er sieht wenig, aber genug um zu begreifen, dass Jesus tot ist. Er sieht die fromme Gruppe, die Maria tröstet, den weinenden Johannes links vom Kreuz und rechts Longinus, der gerade und feierlich in respektvoller Haltung dasteht.

Gamaliel richtet sich auf den Knien auf, breitet die Arme aus und weint: «Du bist es gewesen! Du bist es gewesen! Nun kann uns nicht mehr verziehen werden. Wir haben dein Blut über uns herabgerufen. Und es schreit zum Himmel, und der Himmel verflucht uns... Oh, aber du warst die Barmherzigkeit! ... Ich sage dir, ich, der vernichtete Rabbi von Judäa: „Dein Blut komme über uns, aus Erbarmen.“ Besprenge uns damit! Denn nur dies kann uns Vergebung erlangen ...» Er weint. Dann bekennt er mit leiserer Stimme seine geheime Qual: «Ich habe das verlangte Zeichen... Aber Jahrhunderte über Jahrhunderte geistiger Blindheit liegen auf meinen inneren Augen, und gegen meinen jetzigen Willen erhebt sich wieder die Stimme meines stolzen Denkens von gestern... Habe Erbarmen mit mir! Licht der Welt, sende deinen Strahl in die Finsternis, die dich nicht begriffen hat. Ich bin der alte Jude, der immer dem treu geblieben ist, was er für Gerechtigkeit hielt und was in Wirklichkeit Irrtum war. Nun bin ich ein ödes Land, ohne einen der alten Bäume des alten Glaubens, ohne Samen oder Halme des neuen Glaubens. Ich bin eine dürre Wüste. Wirke du das Wunder, und laß eine Blume sprießen, die deinen Namen trägt, in diesem armen Herzen des alten hartnäckigen Israeliten. Durchdringe du, Befreier, diese meine armen Gedanken, die Gefangene der Formeln sind. Isaias sagt es: „Er bezahlte für die Sünder und nahm die Schuld der vielen auf sich.“ Oh, auch meine, Jesus von Nazareth...»

Er erhebt sich, betrachtet das Kreuz, dass immer klarer erkennbar ist im zunehmenden Licht, und geht dann gebeugt, gealtert, vernichtet weg.

Auf dem Kalvarienberg kehrt das kaum vom Weinen Marias unterbrochene Schweigen wieder.

Die beiden Räuber, erschöpft vor Angst, sprechen nicht mehr.

Joseph und Nikodemus kommen eilenden Schrittes zurück und sagen, dass sie von Pilatus die Erlaubnis haben. Aber Longinus, der ihnen nicht ganz traut, schickt einen Soldaten zu Pferd zum Prokonsul, auch um zu erfahren, was er mit den beiden Räubern tun soll. Der Soldat geht und kehrt bald darauf im Galopp zurück mit dem Befehl, Jesus zu übergeben und den beiden anderen die Gebeine zu zerbrechen, gemäß dem Wunsch der Juden.

Longinus ruft die vier Henkersknechte, die sich feige hinter den Felsen verkrochen haben und immer noch vor Angst über das Vorgefallene zittern, und befiehlt ihnen, die beiden Räuber mit Keulenschlägen zu töten. Dies geschieht ohne Protest bei Dismas, der, als ihn ein Keulenschlag auf das Herz trifft, nachdem man ihm schon die Knie zerschlagen hat, gerade röchelnd den Namen Jesu ausspricht. Der andere Räuber hingegen stößt schreckliche Flüche aus. Ihr Röcheln ist schaurig. Die vier Henker wollen sich nun auch mit Jesus befassen und ihn vom Kreuz abnehmen. Doch Joseph und Nikodemus erlauben es nicht.

Auch Joseph legt seinen Mantel ab und fordert Johannes auf, dasselbe zu tun und die Leiter zu halten, während die beiden mit Hebeln und Zangen hinaufsteigen.

Maria erhebt sich zitternd, gestützt von den Frauen, und nähert sich dem Kreuz.

Die Soldaten ziehen ab, da ihre Aufgabe beendet ist. Longinus wendet sich, bevor er den unteren Platz verläßt, noch einmal auf seinem Rappen um und betrachtet Maria und den Gekreuzigten. Dann hört man das sich immer weiter entfernende Klappern der Hufe auf den Steinen und das Klirren der Waffen, die gegen die Harnische schlagen.

Der linke Nagel ist herausgezogen, und der Arm fällt am Körper herunter, der nun halb losgelöst herabhängt. Die beiden bitten Johannes, ebenfalls heraufzusteigen und die Leitern den Frauen zu überlassen.

Johannes steht nun auf der Leiter, wo zuvor Nikodemus war, legt sich den Arm Jesu um den Hals und hält ihn so auf seiner Schulter; mit einem Arm umfaßt er seine Mitte und hält mit der anderen Hand die linke Hand Jesu an den Fingerspitzen, um die furchtbare klaffende Wunde nicht zu berühren. Als der Nagel an den Füßen entfernt ist, hat Johannes große Mühe, den Leichnam seines Meisters zwischen dem Kreuz und seinem Körper zu halten.

Maria setzt sich schon mit dem Rücken zum Kreuz an seinen Fuß und ist bereit, Jesus in ihrem Schoß zu empfangen.

Doch die Loslösung des rechten Armes ist sehr schwierig. So sehr sich Johannes auch bemüht, hängt der Körper doch sehr weit vor und der Kopf des Nagels bohrt sich in die Hand hinein. Da die beiden Barmherzigen diese nicht noch mehr verwunden wollen, müssen sie sich viel Mühe geben. Endlich gelingt es ihnen, den Nagel mit der Zange zu fassen und ihn ganz langsam herauszuziehen.

Johannes hält Jesus, dessen Kopf über seine Schulter hängt, immer noch unter den Achseln, während Nikodemus die Schenkel und Joseph die Knie umfaßt. So steigen sie vorsichtig die Leiter hinunter.

Unten angelangt wollen sie den Leichnam auf ein Leinentuch legen, dass sie auf ihren Mänteln ausgebreitet haben. Doch Maria will ihren Sohn haben. Sie hat ihren Mantel geöffnet und ihn auf einer Seite ausgebreitet, und sie hat auch ihre Knie etwas geöffnet, so dass sie für ihren Jesus eine Wiege bilden.

Während die Jünger sich umdrehen, um ihr den Sohn zu geben, fällt das dornengekrönte Haupt nach hinten und die Arme hängen zur Erde und würden mit den verwundeten Händen am Boden streifen, wenn die mitleidigen frommen Frauen sie nicht halten würden.

Nun liegt er im Schoß der Mutter... Er gleicht einem großen, müden Kind, dass ganz zusammengekauert an der Brust der Mutter ruht. Maria hält ihn in ihrem rechten Arm, den sie um die Schultern des Sohnes gelegt hat, und mit dem linken faßt sie über seinen Leib und hält ihn an der Hüfte. Der Kopf liegt auf der mütterlichen Schulter. Und sie ruft ihn... sie ruft ihn mit herzzerreißender Stimme. Dann löst sie ihn von ihrer Schulter und liebkost ihn mit der Linken. Sie nimmt seine Hände, biegt sie gerade, küßt sie und beweint die Wunden, bevor sie sie über dem toten Schoß kreuzt. Dann liebkost sie die Wangen, besonders dort, wo der blaue Fleck und die Schwellung ist. Sie küßt die eingesunkenen Augen und den auf der rechten Seite etwas schief gebliebenen und leicht geöffneten Mund. Sie möchte auch sein Haar ordnen, wie sie den blutverkrusteten Bart in Ordnung gebracht hat. Aber dabei stößt sie auf die Dornen. Sie sticht sich, als sie die Krone abnimmt, und will es doch selbst tun mit der einen freien Hand, weist alle ab und sagt: «Nein, nein! Ich! Ich!» Es scheint, als habe sie das zarte Köpfchen eines Neugeborenen vor sich, so sanft geht sie dabei vor. Und als es ihr gelungen ist, diese quälende Krone abzunehmen, neigt sie sich, um alle Kratzer der Dornen mit Küssen zu heilen. Mit zitternder Hand teilt sie das wirre Haar, ordnet es und spricht leise, leise, leise und wischt mit den Fingern die Tränen ab, die auf den armen, kalten, blutigen Körper fallen, und will ihn dann mit ihren Tränen und ihrem Schleier reinigen, der noch die Lenden Jesu bedeckt. Sie zieht ein Ende davon herauf und säubert und trocknet damit die heiligen Glieder. Immer wieder liebkost sie das Antlitz, die Hände, dann die zerschlagenen Knie und beginnt erneut, den Körper zu trocknen, auf den Tränen über Tränen fallen.

Während sie das tut, berührt ihre Hand die Seitenwunde. Die kleine, von dem leichten Linnen bedeckte Hand verschwindet fast ganz in der weiten Öffnung der Wunde. Maria beugt sich vor, um in dem inzwischen eingetretenen Zwielicht zu sehen, und sie sieht. Sie sieht die geöffnete Brust und das Herz ihres Sohnes und schreit auf. Es ist, als ob ein Schwert ihr Herz durchbohren würde. Sie schreit, fällt dann vorwärts über ihren Sohn und scheint ebenfalls tot zu sein.

Die anderen eilen ihr zu Hilfe und trösten sie. Sie wollen ihr den göttlichen Toten abnehmen, und da sie klagt: «Wo, wo werde ich dich niederlegen, damit du in Sicherheit bist und an einem Ort, der deiner würdig ist?», antwortet Joseph mit einer tiefen, ehrfurchtsvollen Verbeugung, die Hand auf die Brust gelegt: «Tröste dich, Frau. Mein Grab ist neu und eines Vornehmen würdig. Ich gebe es ihm. Dieser hier, Nikodemus, der Freund, hat schon die Aromen als seinen Beitrag zum Grab gebracht. Aber ich bitte dich, da es bereits Abend wird, laß uns handeln... Es ist Rüsttag. Sei gut, o heilige Frau!»

Auch Johannes und die Frauen bitten sie, und Maria läßt sich ihren Sohn vom Schoß nehmen. Sie erhebt sich mühsam, während man Jesus in das Leinentuch hüllt, und bittet: «Oh, seid vorsichtig!»

Sie heben nun, Nikodemus und Johannes an den Schultern und Joseph an den Füßen, den nicht nur in das Linnen gehüllten, sondern auch auf den Mänteln, die als Tragbahre dienen, ruhenden Leichnam auf und begeben sich auf den Weg abwärts.

Von der Schwägerin und Magdalena gestützt und von Martha, Maria des Zebedäus und Susanna, die die Nägel, die Zangen, die Dornenkrone, den Schwamm und das Rohr aufgehoben haben, gefolgt, geht Maria zum Grab hinunter.

Auf dem Kalvarienberg bleiben die drei Kreuze zurück, von denen das mittlere leer ist, während die anderen beiden ihre sterbende Trophäe aus Fleisch und Blut tragen.

«Und nun», sagt Jesus, «paß gut auf. Ich erspare dir die Beschreibung der Grablegung, die schon letztes Jahr am 19. Februar 1944 gegeben wurde. Ihr sollt daher diese nehmen, und P. M. soll an deren Ende die Klage Marias setzen, die ich am 4. Oktober 1944 gegeben habe. Dann kannst du anfügen, was du danach sehen wirst. Es sind neue Teile der Passion, und sie müssen genau an ihrem Platz eingefügt werden, damit es kein Durcheinander gibt und keine Lücken entstehen.»

DAS GRAB DES JOSEPH VON ARIMATHÄA; DIE FURCHTBARE SEELENQUAL MARIAS UND DIE EINBALSAMIERUNG DES ERLÖSERS

Zu sagen, was ich empfinde, ist unnötig. Es wäre nur eine Beschreibung meines Leidens, dass unbedeutend ist in Anbetracht des Leidens, dass ich sehe. Ich beschreibe also, ohne etwas über mich selbst zu sagen.

Ich bin bei der Grablegung unseres Herrn anwesend.

Nachdem der kleine Zug den Kalvarienberg hinabgestiegen ist, befindet er sich an seinem Fuß vor dem in den Kalkstein gehauenen Grab des Joseph von Arimathäa. Dort hinein gehen die Barmherzigen mit dem Leichnam Jesu.

Ich sehe das Grab so: Es ist eine in den Stein gehauene Stätte am Ende eines blühenden Gemüsegartens. Sie gleicht einer Höhle, aber man erkennt, dass sie von Menschenhand geschaffen wurde. Sie enthält die eigentliche Grabkammer mit ihren Grabnischen, die aber anders sind als bei den Katakomben. Diese hier sind eine Art in den Stein gehauene runde Löcher, ähnlich den Öffnungen eines Bienenstocks – damit man eine ungefähre Vorstellung davon hat. Die leere Höhlung jeder Grabnische sieht aus wie ein schwarzer Fleck auf dem gräulichen Stein. Vor dieser Grabkammer befindet sich etwas wie ein Vorraum und in seiner Mitte der steinerne Tisch für die Einbalsamierung. Auf diesen legt man Jesus in seinem Leinentuch.

Es kommen nun auch Johannes und Maria herein. Sonst niemand, denn der Vorbereitungsraum ist klein, und wenn es mehr Personen wären, könnten sie sich nicht mehr bewegen. Die anderen Frauen stehen an der Tür, dass heißt, an der Öffnung, denn es gibt keine eigentliche Tür.

Die beiden Träger wickeln Jesus aus.

Während sie in einer Ecke, auf einer Art Regal, im Schein zweier Fackeln die Binden und die Salben vorbereiten, neigt sich Maria über ihren Sohn und weint. Und wieder trocknet sie ihn mit dem Ende des Schleiers, der noch um die Lenden Jesu gewickelt ist. Diese mütterlichen Tränen sind die einzige Waschung für den Leichnam Jesu, und obgleich sie reichlich fließen, gelingt es mit ihnen nur oberflächlich und teilweise, Staub, Schweiß und Blut von diesem gequälten Körper abzuwaschen.

Maria wird nicht müde, die eiskalten Glieder zu liebkosen. Mit einer noch größeren Zartheit als wenn sie ein Neugeborenes berühren würde, nimmt sie die armen zerrissenen Hände in die ihren, küßt die Finger, streckt sie und versucht, die offenen Wunden zu schließen, wie um dadurch den Schmerz zu lindern. Sie drückt diese Hände, die nicht mehr liebkosen können, an ihre Wangen und seufzt, stöhnt in ihrem übergroßen Schmerz. Sie streckt und legt die armen Beine nebeneinander, um die sich nun, da sie todmüde sind von ihrem weiten Weg für uns, niemand kümmert. Aber die Füße sind am Kreuz zu sehr verrenkt worden, und besonders der linke ist so flach, als hätte er keine Ferse mehr.

Dann wendet sie sich wieder dem Rumpf zu und liebkost ihn, der so kalt und schon starr ist. Und als sie noch einmal den Einstich der Lanze sieht, der nun, da der Erlöser auf der Steinplatte ausgestreckt ist, wie ein offener Mund gähnt und noch besseren Einblick in den Brustkorb gewährt (man sieht deutlich die Herzspitze zwischen dem Brustbein und dem linken Rippenbogen, und etwa zwei Zentimeter weiter oben ist der Einstich der Lanzenspitze im Pericardium und im Cardium, gut eineinhalb Zentimeter lang, während der äußere an der rechten Seite mindestens sieben lang ist), schreit Maria wieder auf wie auf dem Kalvarienberg. Es ist als würde die Lanze sie durchbohren, so sehr windet sie sich in ihrem Schmerz. Und sie preßt die Hände auf ihr Herz, dass durchbohrt ist wie das Herz Jesu. Wie viele Küsse auf diese Wunde, arme Mutter!

Dann wendet sie sich wieder dem Haupt zu und legt es gerade, denn es ist leicht nach hinten und stark nach rechts gedreht. Sie versucht, die Lider zu schließen, die sich immer wieder halb öffnen, und den verkrampften offenen Mund, der auf der rechten Seite ein wenig schief ist. Sie glättet die Haare, die gestern noch so schön und ordentlich waren und nun ein blutgetränktes Gewirr sind. Sie entwirrt die längeren Strähnen, streicht sie glatt über ihren Fingern und rollt sie auf, um ihnen die Form der schönen Haare ihres Sohnes wiederzugeben, die so weich und lockig waren. Sie seufzt und seufzt, denn sie erinnert sich an die Zeit, als er noch ein Kind war... Dies ist der Hauptgrund ihres Schmerzes: die Erinnerung an die Kindheit Jesu, an ihre Liebe zu ihm, an ihre Sorge, die schon ein etwas lebhafteres Lüftchen für das göttliche Kind fürchtete, und der Vergleich mit dem, was ihm die Menschen nun angetan haben.

Ihre Klage macht mich krank. Und ihre Geste, als sie stöhnt: «Was haben sie, was haben sie dir getan, mein Sohn?» und, da sie ihn nicht so sehen kann, nackt und steif auf einem Stein, nimmt sie ihn in ihre Arme, indem sie einen Arm unter seine Schultern schiebt, ihn mit der anderen Hand an ihre Brust drückt und ihn wiegt mit derselben Bewegung wie in der Geburtsgrotte – all das treibt mir die Tränen in die Augen, und ich leide, als ob eine Hand in meinem Herzen wühlen würde.

Die furchtbare Seelenqual Marias.

Die Mutter steht aufrecht am Tisch der Einbalsamierung, liebkost und betrachtet, seufzt und weint. Das zitternde Licht der Fackel beleuchtet ab und zu ihr Antlitz, und ich sehe große Tränen über die bleichen Wangen und das gequälte Gesicht rinnen. Und ich höre die Worte. Alle. Sehr deutlich, obgleich sie nur geflüstert sind; ein wahres Zwiegespräch des mütterlichen Herzens mit der Seele des Sohnes. Ich erhalte die Weisung, sie aufzuschreiben.

«Armer Sohn! Wie viele Wunden! ... Wie sehr hast du gelitten! Schau, was sie dir angetan haben! ... Wie bist du kalt, mein Sohn! Deine Finger sind eisig. Und wie leblos sie sind! Sie scheinen gebrochen zu sein. Niemals, weder im sorglosen Schlaf deiner Kindheit noch im schweren Schlaf des müden Handwerkers habe ich sie je so reglos gesehen... Und wie kalt sie sind! Arme Hände! Gib sie deiner Mutter, mein Kleinod, heilige Liebe, du meine Liebe! Schau, wie verwundet sie sind! Sieh doch, Johannes, welche Wunde! Oh, ihr Grausamen! Hier, hier, gib deiner Mutter diese verwundete Hand, damit ich sie pflege. Oh, ich werde dir nicht wehtun... Mit Küssen und Tränen werde ich sie heilen und sie mit meinem Atem und meiner Liebe erwärmen. Schenke mir eine Liebkosung, mein Sohn. Du bist Eis, und ich glühe im Fieber. Dein Eis wird mein Fieber lindern, und mein Fieber wird dein Eis erwärmen. Eine Liebkosung, Sohn! Erst wenige Stunden sind es, dass du mich nicht liebkost, und es scheinen mir Jahrhunderte zu sein. Es gab Monate, da ich deine Liebkosungen vermißte, und sie kamen mir wie Stunden vor, denn ich wartete immer auf dein Kommen; aus jedem Tag machte ich eine Stunde, und aus jeder Stunde eine Minute, um mir zu sagen, dass du nicht seit einem oder mehreren Monaten fern warst, sondern erst seit wenigen Tagen, seit wenigen Stunden. Warum erscheint mir die Zeit jetzt so lang? Ach, unmenschliche Qual! Warum bist du tot? Sie haben dich mir getötet! Nun bist du nicht mehr auf Erden. Nicht mehr! Überall, wo ich meine Seele hinwende, um die deine zu suchen und sie zu umarmen – denn dich zu finden, zu besitzen, zu fühlen, war ja das Leben meines Fleisches und meines Geistes -wo immer ich dich suche mit der Woge meiner Liebe, ich finde dich nicht mehr, nicht mehr! Von dir bleibt mir nur diese kalte Hülle, diese seelenlose Hülle! O Seele meines Jesus, o Seele meines Christus, o Seele meines Herrn, wo bist du? Warum habt ihr meinem Sohn die Seele geraubt, ihr grausamen Hyänen, die ihr mit Satan im Bunde seid? Warum habt ihr mich nicht mit ihm gekreuzigt? Habt ihr euch vor einem zweiten Verbrechen gefürchtet? (Die Stimme wird immer lauter und herzzerreißender.) Was hätte es schon bedeutet, eine arme Frau zu töten, für euch, die ihr euch nicht gescheut habt, den fleischgewordenen Gott zu töten? Habt ihr kein zweites Verbrechen begangen? Ist es denn nicht noch viel abscheulicher, die arme Mutter eines hingeschlachteten Sohnes überleben zu lassen?»

Die Mutter, die mit der Stimme auch das Haupt erhoben hat, neigt sich nun wieder über das erloschene Antlitz, um leise und nur für ihn zu sprechen: «Wenigstens im Grab, wenigstens hier wären wir zusammen gewesen, so wie wir bei der Agonie am Kreuz zusammen gewesen wären. Und zusammen hätten wir uns auf die Reise ins andere Leben begeben, wären wir dem anderen Leben entgegengegangen. Aber wenn ich dir auf der Reise ins andere Leben nicht folgen kann, so kann ich wenigstens hier auf dich warten.»

Sie richtet sich wieder auf und sagt laut zu den Anwesenden: «Geht alle. Ich bleibe. Schließt mich hier mit ihm ein. Ich warte auf ihn... Was sagt ihr? Das geht nicht? Warum nicht? Wenn ich tot wäre, läge ich dann nicht auch hier an seiner Seite ausgestreckt, in Erwartung der Einbalsamierung? Ich werde an seiner Seite sein, aber auf den Knien. Ich war auf den Knien, als er zart und rosig in einer Dezembernacht zu wimmern begann. Ich werde in dieser Nacht der Welt, die keinen Christus mehr hat, hier auf den Knien sein. Oh! Wahre Nacht! Das Licht ist nicht mehr! ... O eisige Nacht! Die Liebe ist tot! Was sagst du, Nikodemus? dass ich mich verunreinige? Sein Blut verunreinigt nicht. Ich habe mich auch nicht verunreinigt, als ich ihn empfangen und geboren habe. Ach, wie tratest du hervor, Blüte meines Schoßes, ohne eine Faser zu beschädigen; wie die Blüte einer duftenden Narzisse, die aus dem Herzen der mütterlichen Zwiebel entspringt und erblüht, ohne dass die Umarmung der Erde sie berührt. Jungfräuliches Erblühen, dass dem deinen gleicht, o Sohn, aus himmlischer Umarmung entstanden und geboren unter dem strahlenden Glanz des Himmels.»

Nun neigt sich die betrübte Mutter wieder über ihren Sohn, vergißt alles, was nicht er ist, und flüstert leise: «Erinnerst du dich noch, Sohn, jenes herrlichen Glanzes, der alles umgab, als dein Lächeln der Welt geboren wurde? Erinnerst du dich des beseligenden Lichtes, dass der Vater vom Himmel sandte, um das Geheimnis deines Erblühens einzuhüllen und dir diese finstere Welt weniger abstoßend erscheinen zu lassen, dir, der du das Licht warst und aus dem Licht des Vaters und des Heiligen Geistes kamst? Und nun? ... Nun ist es finster und kalt... Wie kalt! So kalt! Ich zittere. Mehr als in jener Dezembernacht. Damals erwärmte mir die Freude, dich zu haben, dass Herz. Und du hattest zwei, die dich liebten... Nun... Nun bin ich allein, und auch ich sterbe. Aber ich werde dich für zwei lieben; ich werde dich für jene lieben, die dich so wenig geliebt haben, dass sie dich im Augenblick des Schmerzes verlassen haben; ich werde dich lieben für alle, die dich gehaßt haben; für die ganze Welt werde ich dich lieben, o Sohn. Du wirst das Eis der Welt nicht fühlen. Nein, du wirst es nicht fühlen. Du hast meinen Schoß nicht geöffnet, um geboren zu werden. Aber damit du die Kälte nicht fühlst, bin ich bereit, mich zu öffnen, um dich in die Umarmung meines Schoßes zu verschließen. Erinnerst du dich noch, wie dieser Schoß dich geliebt hat, kleiner lebender Keim? ... Es ist immer noch derselbe Schoß. Oh, es ist mein Recht und meine Pflicht als Mutter. Es ist mein Wunsch. Nur die Mutter kann sie haben, kann für den Sohn eine Liebe haben, die so groß ist wie das Universum.»

Sie hat ihre Stimme nach und nach wieder erhoben und sagt nun ganz laut: «Geht. Ich bleibe. Kommt in drei Tagen wieder, dann werden wir zusammen hinausgehen. Oh, die Welt wiedersehen zu können, auf deinen Arm gestützt, mein Sohn! Wie schön wird die Welt sein im Licht deines auferstandenen Lächelns! Die bei dem Schritt ihres Herrn erbebende Welt! Die Welt zitterte, als der Tod dir die Seele entriß und der Geist aus deinem Herzen wich. Aber nun wird sie zittern... nicht mehr aus Furcht und Schrecken, sondern in einem süßen Schauer, der mir zwar unbekannt ist, den ich aber als Frau erahne: dem Schauer, der eine Jungfrau überläuft, die nach langer Abwesenheit die Schritte des zur Hochzeit eintreffenden Bräutigams vernimmt. Mehr noch: Die Welt wird von einem heiligen Schauer erfaßt werden, wie ich erschüttert wurde bis in die tiefsten Tiefen, als ich den einen und dreieinen Herrn in meinem Innern fühlte und der Wille des Vaters mit dem Feuer der Liebe den Samen schuf, aus dem du hervorgingst, o mein heiliges Kind, mein Geschöpf! Ganz mein! Ganz! Ganz der Mutter gehörend, der Mutter!... Jedes Kind hat einen Vater und eine Mutter, sogar das uneheliche hat einen Vater und eine Mutter. Du aber hast nur die Mutter gehabt, die für dich das Fleisch aus Rosen und Lilien gebildet hat, diese Stickerei der Adern, blau wie unsere Bäche von Galiläa; diese Lippen, rot wie Granatäpfel; diese Haare, die feiner und blonder sind als das Haar unserer Bergziegen; und diese Augen, zwei kleine Seen des Paradieses. Nein, vielmehr sind sie die Wasser, aus denen der einzige und vierfache Strom des Ortes der Seligkeiten hervorgeht, und er bringt mit sich in seinen vier Armen das Gold, den Onyx, dass Bdellium und das Elfenbein, und die Diamanten, die Palmen, die Rosen und unendliche Reichtümer, o Pischon, o Gichon, o Tigris, o Euphrat: du Weg der in Gott jubelnden Engel, du Weg der Könige, die dich anbeten, du Seinsgrund, der – bekannt oder unbekannt – doch der Lebendige ist und gegenwärtig selbst in den verfinstertsten Herzen! Nur deine Mutter hat dir dies alles gegeben durch ihr „Ja!'... Aus Harmonien und Liebe habe ich dich gebildet. Aus Reinheit und Gehorsam habe ich dich gebildet, o meine Freude! Was ist dein Herz? Die Flamme meines Herzens, die sich geteilt hat, um als Krone den Kuß Gottes für seine Jungfrau zu umgeben. Dies ist dein Herz. Ach! (Der Schrei ist so herzzerreißend, dass Magdalena und Johannes zu Hilfe eilen. Die anderen wagen es nicht und schauen weinend und verschleiert vom Eingang des Raumes aus zu.) Ach, sie haben dir das Herz gebrochen. Deshalb bist du so kalt, und deshalb bin ich so kalt! Du hast in dir nicht mehr die Flamme meines Herzens, und ich kann nicht mehr weiterleben ohne den Widerschein jener Flamme, die mein war und die ich dir gegeben habe, um dir ein Herz zu schaffen. Hierher, hierher, komm hierher an mein Herz! Bevor der Tod mich dahinrafft, will ich dich wärmen, will ich dich wiegen. Ich habe für dich gesungen: „Kein Haus, keine Nahrung, nichts als Schmerz.“ O welch prophetische Worte! Schmerz, Schmerz und wieder Schmerz für dich und für mich! Ich habe für dich gesungen: „Schlafe, schlafe an meinem Herzen.“ Auch jetzt, hier, hier, hier ...»

Und sie setzt sich auf den Rand des Steines und nimmt den Sohn auf ihren Schoß, legt einen seiner Arme um ihre Schultern, lehnt sein Haupt an ihre Brust, neigt das ihre auf seines, drückt ihn fest an sich und wiegt und küßt ihn, erschüttert und erschütternd!

Nikodemus und Joseph kommen näher und legen auf eine Art Sitz auf der anderen Seite des Steines Gefäße und Binden, dass reine Grabtuch und, wie mir scheint, ein Becken mit Wasser und etwas wie Wattebäusche.

Maria schaut auf und fragt laut: «Was tut ihr da? Was wollt ihr? Ihn vorbereiten? Wozu? Laßt ihn im Schoß seiner Mutter. Wenn es mir gelingt, ihn zu wärmen, wird er früher auferstehen. Wenn es mir gelingt, den Vater zu trösten und ihn zu trösten über den gottesmörderischen Haß, wird der Vater eher verzeihen und er eher zurückkehren.»

Die Schmerzenreiche ist völlig außer sich.

«Nein, ich gebe ihn euch nicht. Ich habe ihn einmal gegeben, einmal habe ich ihn der Welt gegeben, und die Welt hat ihn nicht gewollt. Sie hat ihn getötet, weil sie ihn nicht wollte. Nun gebe ich ihn nicht mehr her. Was sagt ihr? dass ihr ihn liebt? Schön. Aber warum habt ihr ihn dann nicht verteidigt? Ihr habt gewartet, um zu sagen, dass ihr ihn liebt, bis es soweit war, dass er euch nicht mehr hören konnte. Eine arme Liebe ist die eure! Aber wenn ihr die Welt schon so sehr gefürchtet habt, dass ihr nicht den Mut hattet, einen Unschuldigen zu verteidigen, hättet ihr ihn wenigstens mir zurückgeben müssen, mir, der Mutter, damit sie ihr Kind verteidigt.

Sie wußte, wer er war und was ihm gebührte. Ihr! ... Ihr habt ihn als Meister gehabt, aber ihr habt nichts gelernt. Ist dies vielleicht nicht wahr? Lüge ich etwa? Seid ihr euch nicht im klaren, dass ihr nicht an seine Auferstehung glaubt? Oder glaubt ihr daran? Nein. Warum steht ihr da und bereitet die Binden und die Salben vor? Weil ihr ihn für einen armen Toten haltet, der heute kalt ist und morgen verwesen wird. Und deshalb wollt ihr ihn einbalsamieren. Laßt eure Salben. Kommt und betet den Erlöser an mit dem reinen Herzen der Hirten von Bethlehem. Seht her, es ist nur der Schlaf des Müden, der sich ausruht. Wie sehr hat er sich in seinem Leben gemüht! Immer mehr Mühen hat er auf sich genommen! Und in diesen letzten Stunden erst! ... Nun ruht er sich aus. Für mich, für seine Mutter ist er nichts als ein großes, müdes Kind, dass schläft. Das Bett und der Raum sind armselig! Aber auch sein erstes Bett war nicht schöner und seine erste Wohnung nicht freundlicher. Die Hirten beteten den Erlöser an in seinem Schlaf als kleines Kind. Ihr sollt den Erlöser anbeten in seinem Schlaf als Sieger über Satan. Und dann geht hin, wie die Hirten, und verkündet der Welt: „Ehre sei Gott! Die Sünde ist tot! Satan ist besiegt! Frieden auf Erden und im Himmel zwischen Gott und dem Menschen!“ Bereitet die Wege für seine Rückkehr. Ich sende euch aus. Ich, die die Mutterschaft zur Priesterin des Ritus macht. Geht. Ich habe gesagt, dass ich nicht will. Ich habe ihn mit meinen Tränen gewaschen. Das genügt. Alles übrige ist nicht nötig. Und laßt euch nicht einfallen, ihn einzuwickeln. Es wird einfacher für ihn sein, aufzuerstehen, wenn ihn diese unnötigen Begräbnisbinden nicht behindern. Warum siehst du mich so an, Joseph? Und du, Nikodemus? Haben die Schrecken dieses Tages euren Verstand verdunkelt? Oder euch das Gedächtnis genommen? Erinnert ihr euch nicht mehr „Diesem bösen, ehebrecherischen Geschlecht, dass ein Zeichen fordert, wird nur das Zeichen des Jonas gegeben werden... So wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein?“ Erinnert ihr euch nicht? „Der Menschensohn wird den Menschen überliefert und getötet werden, aber am dritten Tage wird er auferstehen.“ Erinnert ihr euch nicht? „Zerstört diesen Tempel des wahren Gottes, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten?' Der Tempel war sein Leib, o Menschen. Du schüttelst das Haupt? Du bedauerst mich? Du glaubst, dass ich den Verstand verloren habe? Aber... Er, der die Toten erweckt hat, soll sich selbst nicht erwecken können? Johannes?»

«Mutter!»

«Ja, nenne mich Mutter! Ich kann nicht leben bei dem Gedanken, dass niemand mehr mich so nennen wird! Johannes, du bist dabeigewesen, als er die Tochter des Jairus und den Jüngling von Naim erweckt hat. Sie waren beide tot, nicht wahr? Oder war es etwa nur ein tiefer Schlaf? Antworte!»

«Sie waren tot. Das Mädchen seit zwei Stunden, und der Jüngling seit eineinhalb Tagen.»

«Und sie sind auf seinen Befehl hin auferstanden?»

«Ja, sie sind auf seinen Befehl hin auferstanden.»

«Habt ihr gehört? Ihr beiden, habt ihr gehört? Warum schüttelt ihr den Kopf? Wollt ihr vielleicht sagen, dass das Leben in einen jungen, unschuldigen Menschen leichter zurückkehrt? Aber mein Kind ist der Unschuldige und ewig Junge. Er ist Gott, mein Sohn...!»

Die Mutter schaut mit schmerzerfüllten und fiebrigen Augen die beiden Männer an, die betrübt, aber unbeirrbar die nunmehr mit Aromen getränkten Rollen der Bandagen zurechtlegen. Maria macht zwei Schritte. Sie hat ihren Sohn auf den Stein zurückgelegt mit der Sorgfalt, mit der man ein Neugeborenes in die Wiege legt. Nun geht sie zwei Schritte, neigt sich am Fußende des Totenbettes, wo Magdalena auf den Knien weint, faßt sie an den Schultern, schüttelt sie und ruft: «Maria, antworte! Diese beiden hier glauben, dass Jesus nicht auferstehen kann, weil er ein Mensch und an seinen Wunden gestorben ist. Aber ist denn dein Bruder nicht älter als er?»

«Ja.»

«Und war nicht sein ganzer Leib von Wunden bedeckt?»

«Ja.»

«War er nicht schon verwest, bevor er ins Grab gelegt wurde?»

«Ja.»

«Und ist er nicht nach vier Tagen der Atemlosigkeit und der Verwesung auferstanden?»

«Ja.»

«Also?»

Es folgt ein langes, bedrückendes Schweigen. Dann ein unmenschlicher Schrei. Maria wankt und führt eine Hand zum Herzen. Man will sie stützen, doch Maria weist alle zurück. Es sieht aus, als würde sie die Barmherzigen abweisen. In Wirklichkeit aber weist sie den von sich, den nur sie allein sieht. Und sie schreit: «Zurück! Zurück, du Grausamer! Nicht diese Rache! Schweige! Ich will dich nicht hören! Schweige! Ach, er trifft mich mitten ins Herz!»

«Wer, Mutter?»

«0 Johannes! Satan ist es. Satan, der sagt: „Er wird nicht auferstehen. Kein Prophet hat es gesagt.“ O allmächtiger Gott! Helft mir alle, ihr seligen Geister und ihr guten Menschen! Ich verliere den Verstand! Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Was sagen die Propheten? Was steht in den Psalmen? Oh, wer wiederholt mir die Stellen, die von meinem Jesus handeln?»

Und Maria Magdalena spricht mit ihrer vollen, schönen Stimme den Psalm Davids über das Leiden des Messias.

Die Mutter weint, von Johannes gestützt, noch stärker, und ihre Tränen fallen auf den toten Sohn, der ganz naß davon ist. Maria sieht es, trocknet ihn ab und sagt mit leiser Stimme: «So viele Tränen! Und als du so durstig warst, konnte ich dir keine einzige geben. Nun... wasche ich dich damit. Du gleichst einem von schwerem Tau bedeckten Strauch. Laß dich von deiner Mutter abtrocknen. Du hast schon so viel Bitterkeit verkostet! Auf deine Lippen sollen nicht auch die Bitterkeit und das Salz der mütterlichen Tränen fallen...!»

Dann ruft sie laut: «Maria, David sagt es nicht... Kennst du Isaias? Wiederhole mir seine Worte...»

Magdalena sagt den Abschnitt über die Passion auf und endet mit einem Schluchzen: «... er gab sein Leben in den Tod dahin und ward unter die Übeltäter gezählt. Er, der die Schuld der Welt trug und für die Sünder eintrat.»

«Oh, schweige! Nicht Tod! Nicht dem Tod dahingegeben! Nein! Nein! Oh, euer Unglaube verbündet sich mit der Versuchung durch Satan und will mir Zweifel ins Herz streuen! Sollte ich dir nicht glauben, o Sohn? Deinem heiligen Wort nicht glauben? Oh, sage es meiner Seele! Sprich! Von den fernen Ufern, zu denen du gegangen bist, um die auf dein Kommen Wartenden zu erlösen, sende die Stimme deiner Seele meiner sehnsüchtig wartenden Seele; sie ist hier, weit offen, um deine Stimme zu vernehmen. Sage deiner Mutter, dass du zurückkommst. Sage: „Am dritten Tag werde ich auferstehen.“ Ich bitte dich, Sohn und Gott! Hilf mir, meinen Glauben zu bewahren. Satan versucht, ihn zu erschüttern und zu erwürgen. Satan hat mit seinem Schlangenmaul abgelassen vom Fleisch des Menschen, da du ihm diese Beute entrissen hast, und schlägt nun seine giftigen Fangzähne in mein Herz, lähmt seinen Schlag und seine Kraft, nimmt ihm seine Wärme. Gott! Gott! Gott! Laß nicht zu, dass ich dir mißtraue. Laß nicht zu, dass der Zweifel mich erstarren läßt. Gewähre Satan nicht die Freiheit, mich in die Verzweiflung zu treiben. Sohn! Sohn! Lege mir deine Hand aufs Herz. Sie wird Satan vertreiben. Lege sie mir aufs Haupt. Sie wird mir das Licht zurückbringen. Heilige mit einem Kuß meine Lippen, damit sie stark werden und sagen: „Ich glaube“, auch gegen eine ganze Welt, die nicht glaubt. Oh, welch ein Schmerz ist es, nicht zu glauben! Vater! Denen, die nicht glauben, muss man viel verzeihen. Denn wenn man nicht mehr glaubt... wenn man nicht mehr glaubt... ist man allen Schrecknissen ausgesetzt. Ich sage es dir... ich, die ich diese Qual am eigenen Leib erfahre. Vater, habe Mitleid mit den Glaubenslosen. Gib ihnen, heiliger Vater, gib ihnen für diese dargebrachte Hostie und für mich, die Hostie, die noch dargebracht wird, gib deinen Glauben den Ungläubigen.»

Ein langes Schweigen.

Dann geben Nikodemus und Joseph, Johannes und Magdalena ein Zeichen.

«Komm, Mutter.» Magdalena hat das Wort ergriffen und versucht, Maria von ihrem Sohn wegzuführen, die Finger Jesu aus denen der Mutter zu lösen, die sie immer noch küßt und weint.

Die Mutter richtet sich feierlich auf. Ein letztes Mal streckt sie die armen, blutleeren Finger aus und legt die leblose Hand in die Seite des Leichnams. Dann läßt sie die Arme sinken, steht sehr gerade und mit leicht zurückgeneigtem Haupt und betet und opfert. Man hört kein Wort. Aber ihr ganzes Aussehen läßt erkennen, dass sie betet. Sie ist wahrlich die Priesterin am Altar, die Priesterin im Augenblick der Opferung. «Offerimus praeclarae majestati tuae de tuis donis, ac datis, hostiam puram, hostiam sanctam, hostiam immaculatam ...»

Dann wendet sie sich um: «Fangt also an. Aber er wird auferstehen. Es ist unnütz, dass ihr meinem Verstand mißtraut und taub seid für die Wahrheit, die er euch gesagt hat. Vergebens versucht Satan, meinen Glauben zu trüben. Um die Welt zu erlösen, ist auch die meinem Herzen vom besiegten Satan zugefügte Qual nötig. Ich ertrage sie und opfere sie für die zukünftigen Menschen auf. Leb wohl, Sohn! Leb wohl, mein Geschöpf! Leb wohl, mein Kind! Leb wohl... Leb wohl... Heiliger... Guter... Geliebtester und Liebenswertester... Schönheit... Freude ... Quelle des Heils... Leb wohl... Auf deine Augen... auf deine Lippen ... auf dein goldenes Haar... auf deine erkalteten Glieder... auf dein durchbohrtes Herz... oh, auf dein durchbohrtes Herz... meinen Kuß... meinen Kuß... meinen Kuß... Leb wohl... Leb wohl! ... Herr! Erbarme dich meiner!»

Jesus sagt:

«Und diese Qual hat in periodischen Anfällen bis zum Sonntagmorgen fortgedauert. Für mich gab es bei der Passion eine einzige Versuchung. Die Mutter hingegen, die Frau, musste für die Frau, die an allem Bösen schuldig war, immer wieder büßen. Und Satan hat sich auf die Siegerin mit hundertfacher Grausamkeit gestürzt. Maria hatte ihn besiegt. Deshalb wartete auf Maria die schrecklichste Versuchung. Die Versuchung des Fleisches der Mutter. Die Versuchung des Herzens der Mutter. Die Versuchung des Geistes der Mutter. Die Weit glaubt, die Erlösung sei bei meinem letzten Atemzug vollendet gewesen. Nein. Die Mutter hat sie vollendet durch die Hinzufügung ihrer dreifachen Qual, um von der dreifachen Begierlichkeit zu erlösen. Drei Tage hat sie Satan bekämpft, der sie dazu bringen wollte, mein Wort zu verleugnen und nicht an meine Auferstehung zu glauben. Maria war die einzige, die weiterhin geglaubt hat. Sie ist groß und heilig auch dieses Glaubens wegen.

Nun hast du auch dies kennengelernt. Die Qual, die das Gegenstück zur Qual meines Gethsemane ist. Die Welt wird diese Seite nicht verstehen; doch jene, „die in der Welt sind, aber nicht von der Welt, werden sie verstehen und ihre Liebe zur Schmerzensmutter wird dadurch wachsen. Dazu habe ich sie gegeben. Geh in Frieden mit unserem Segen.»

Die beiden Männer sind nun fertig mit der Vorbereitung der Binden. Sie treten an den steinernen Tisch und nehmen das Lendentuch Jesu ab. In großer Eile wischen sie die überall tropfenden Glieder ab, wie mir scheint mit einem Schwamm oder einem Leinenbausch. Dann bestreichen sie den ganzen Körper mit Salben. Sie begraben ihn geradezu unter einer dicken Schicht Salbe. Zuvor noch haben sie ihn hochgehoben und auch den steinernen Tisch gereinigt und das Grabtuch darübergebreitet, von dem mehr als die Hälfte am Kopfende hinunterhängt. Sie legen ihn auf den Bauch und salben den ganzen Rücken, die Schenkel, die Beine, die ganze Rückseite. Dann drehen sie ihn vorsichtig um und achten darauf, dass der duftende Balsam nicht abgewischt wird, und salben nun auch die Vorderseite. Zuerst den Rumpf, dann die Glieder. Sie beginnen an den Füßen und enden mit den Händen, die sie über dem Unterleib zusammenlegen. Die Salbenmischung muss klebrig wie Leim sein, denn ich sehe, dass die Hände an ihrem Platz bleiben, während sie vorher durch das Gewicht des toten Fleisches immer hinuntergerutscht sind. Die Füße nicht. Sie bleiben an ihrem Platz, der eine etwas gerader, der andere leicht gestreckt. Zum Schluß kommt das Haupt. Nachdem sie es sorgfältig gesalbt haben, so dass die Züge unter der Salbenschicht verschwinden, binden sie das Kinn auf, um den Mund geschlossen zu halten.

Maria stöhnt lauter. Dann heben sie das herunterhängende Stück des Grabtuchs auf und schlagen es über Jesus. Er verschwindet unter dem dicken Grableinen, ist nur noch eine stoffbedeckte Form.

Joseph gibt acht, dass alles richtig an seinem Platz ist, breitet noch ein Schweißtuch über das Gesicht und weitere Tücher – kurze und lange rechteckige Streifen – von rechts nach links über den Körper, die das Grabtuch eng anliegend um den Leichnam festhalten sollen. Es ist nicht die typische Bandagierung, die man von den Mumien kennt, und nicht einmal die, die ich bei der Auferstehung des Lazarus gesehen habe. Es ist nur ein Ansatz von Bandagierung.

Jesus ist nicht mehr. Auch die Gestalt löst sich auf unter den Leinentüchern. Sie gleicht einem langen Haufen weißer Tücher, schmäler an den beiden Enden und in der Mitte etwas breiter, auf dem grauen Stein. Maria weint lauter.

DIE RÜCKKEHR ZUM ABENDMAHLSAAL

Joseph von Arimathäa löscht eine der Fackeln, wirft noch einen prüfenden Blick um sich und begibt sich dann zur Öffnung des Grabes, wobei er die andere Fackel in die Höhe hält.

Maria neigt sich noch einmal, um den Sohn durch seine Bandagen hindurch zu küssen. Und sie will dabei ihren Schmerz beherrschen, eine respektvolle Haltung bewahren vor dem Leichnam, der schon einbalsamiert ist und ihr nicht mehr gehört. Doch als sie sich dem verhüllten Gesicht nähert, kann sie sich nicht mehr beherrschen und wird von einer neuen Krise der Verzweiflung überwältigt.

Nur mit Mühe gelingt es, sie aufzuheben, und mit noch größerer Mühe führen sie sie fort vom Totenbett. Sie bringen die durcheinandergeratenen Tücher wieder in Ordnung und müssen die arme Mutter mehr forttragen als stützen, während sie zurückblickt, um ihren Jesus zu sehen, noch einmal zu sehen, der dort im Dunkel des Grabes allein zurückbleibt.

Im Abendschein verlassen sie den stillen Garten. Das schwache Tageslicht, dass nach der Tragödie von Golgotha wiedergekehrt ist, weicht nun der einbrechenden Nacht. Und hier, unter dem dichten Geäst – das noch keine Blätter und gerade erst die noch nicht erblühten rosaroten und weißen Apfelknospen trägt, die sich in diesem Garten des Joseph so seltsam verspätet haben, während sie anderswo längst in voller Blüte stehen oder sogar schon befruchtet und zu winzigen Äpfelchen geworden sind – hier ist es noch dunkler als draußen.

Der schwere Stein wird vor das Grab gewälzt. Lange Zweige eines zerzausten Rosenbusches hängen von der Höhe der Höhle auf den Boden und scheinen an die steinerne Pforte zu klopfen und zu sagen: «Warum verschließt du dich vor einer Mutter, die weint?» Und auch sie scheinen blutige Tränen zu weinen mit ihren roten, abfallenden Blütenblättchen, mit ihren Blüten, die sich über den dunklen Stein legen, mit ihren verschlossenen Knospen, die an das unerbittliche Tor pochen. Doch bald benetzen andere Tränen und anderes Blut dieses Tor des Todes.

Maria, die Johannes bisher gestützt und deren Schluchzen sich ziemlich beruhigt hat, macht sich von dem Apostel los und wirft sich mit einem Schrei, der, glaube ich, sogar die Gewächse in ihrem Innersten erzittern läßt, auf die Tür, hängt sich an einen Vorsprung und will sie zur Seite schieben. Sie reibt sich die Finger wund und zerbricht sich die Nägel, ohne etwas zu erreichen, und stemmt sogar den Kopf gegen den rauhen Vorsprung. Und ihr Stöhnen erinnert an das Brüllen einer Löwin, die sich vor der Falle, in der ihre Jungen gefangen sind, in ihrer mitleidigen, wilden Mutterliebe verzehrt.

Sie hat nichts mehr von der sanftmütigen Jungfrau von Nazareth, von der geduldigen Frau, als die man sie bisher kannte. Sie ist die Mutter. Ganz einfach die Mutter, die mit allen Fasern und Nerven des Fleisches und der Liebe an ihrem Geschöpf hängt. Sie ist die wahre «Besitzerin» dieses Fleisches, dass sie geboren hat, die einzige Besitzerin nach Gott, und sie duldet nicht, dass man sie dieses Eigentums beraubt. Sie ist die «Königin», die ihre Krone verteidigt: den Sohn, den Sohn, den Sohn.

Alle Auflehnung und aller Widerstand, die jede andere Frau in dreiunddreißig Jahren gegen die Ungerechtigkeit der Welt gegenüber ihrem Kind gezeigt hätte, alle heilige und erlaubte Wildheit, mit der sich jede andere Mutter während dieser letzten Stunden gegen die Mörder ihres Sohnes gewandt hätte, um sie mit Händen und Zähnen zu verletzten und zu töten, all das, was sie aus Liebe zum Menschengeschlecht immer bezähmt hat, rührt sich nun in ihrem Herzen und kocht in ihrem Blut. Aber selbst in diesem Schmerz, der sie fast den Verstand verlieren läßt, verwünscht sie nicht und lehnt sich nicht auf, sondern fleht nur den Stein an, sich zu öffnen und ihr den Weg freizugeben; denn ihr Platz ist dort drinnen, wo er ist. Sie bittet nur die Menschen, die unbarmherzig in ihrer Barmherzigkeit sind, ihr zu gehorchen und zu öffnen.

Nachdem sie sich Lippen und Hände an dem unnachgiebigen Stein verletzt und blutig geschlagen hat, wendet sie sich um, lehnt sich mit ausgebreiteten Armen an, hält dabei die beiden Ränder des Steines fest und befiehlt mit der furchterregenden Würde der Mater Dolorosa: «Öffnet! Ihr wollt nicht? Gut, dann bleibe ich hier. Nicht drinnen? Hier draußen also. Hier ist mein Brot und mein Lager. Hier ist meine Bleibe. Ich habe kein anderes Haus mehr und kein anderes Ziel. Geht nur. Geht zurück in die Welt, die ein Abscheu ist. Ich bleibe hier, wo es keine Begierde und keinen Blutgeruch gibt.»

«Du kannst nicht, Frau!»

«Du kannst nicht, Mutter!»

«Du kannst nicht, Maria, Liebe!»

Sie versuchen, ihre Hände vom Fels zu lösen und sind verängstigt durch diese Augen, deren Blitzen, dass sie hart, beherrschend, gläsern und phosphoreszierend macht, sie noch nicht kennen.

Die Sanftmütigen sind nicht herrschsüchtig, und die Demütigen können nicht im Hochmut verharren... Und bei Maria legt sich die Heftigkeit des Wollens und das Befehlende sofort. Sie bekommt wieder den sanften Blick der gequälten Taube, verliert den gebietenden Ausdruck, beugt sich wieder flehend vor und bittet mit gefalteten Händen: «Oh, laßt mich doch! Um eurer Toten willen, um deretwillen, die ihr unter den Lebenden liebt, habt Erbarmen mit einer armen Mutter! ... Hört... hört mein Herz. Es braucht Frieden, damit dieses grausame Klopfen aufhört. Dort oben, auf dem Kalvarienberg, hat es begonnen, so zu klopfen. Der Hammer ging bumm, bumm, bumm... und jeder Schlag verletzte mein Kind... und drang mir ins Hirn und ins Herz... Und mein Kopf ist voll von diesen Schlägen, und das Herz schlägt rasch, wie der Hammer auf die Hände und auf die Füße meines Jesus, meines kleinen Jesus... Mein Kind! Mein Kind...!»

Der ganze Schmerz kehrt wieder, nachdem er sich bei dem Gebet zum Vater am Tisch der Einbalsamierung beruhigt zu haben schien. Alle weinen.

«Ich kann keine Schreie und keine Schläge mehr hören. Und die Welt ist voller Stimmen und Geräusche. Jede Stimme ist für mich „der große Schrei“, der mir das Blut in den Adern gerinnen ließ, und jedes Geräusch ist für mich wie ein Hammerschlag auf den Nagel. Ich kann keine Menschengesichter mehr sehen. Und die Welt ist voller Gesichter... Seit fast zwölf Stunden sehe ich nur Mördergesichter... Judas... die Henker... die Priester... die Juden... Alle, alle Mörder! ... Weg! Weg! Ich will niemanden mehr sehen... In jedem Menschen steckt ein Wolf und eine Schlange. Ich empfinde Angst und Abscheu vor den Menschen... Laßt mich hier, unter diesen ruhigen Bäumen, auf diesem blühenden Rasen... Bald werden die Sterne erscheinen... Sie sind immer seine Freunde und meine Freunde gewesen... Gestern abend haben sie uns Gesellschaft geleistet in unserer einsamen Todesangst... Sie wissen so viele Dinge... Sie kommen von Gott! ... Oh! Gott! Gott!» Sie weint und kniet nieder. «Frieden, mein Gott. Ich habe nur noch dich!»

«Komm, Kind. Gott wird dir Frieden schenken. Aber komm. Morgen ist der Passahsabbat. Wir können nicht herkommen und dir Speisen bringen.»

«Nichts! Nichts! Ich will keine Speisen! Ich will meinen Sohn! Ich nähre mich von meinem Schmerz und stille meinen Durst mit den Tränen... Da... Hört ihr, wie das Käuzchen klagt? Es weint mit mir, und bald werden auch die Nachtigallen klagen. Und morgen bei Sonnenaufgang werden die Lerchen und die Schwarzköpfchen klagen und alle Vögel, die er liebgehabt hat; und die Turteltauben werden mit mir an diesen Fels klopfen und sagen: „Steh auf, mein Geliebter, und komm! Mein Geliebter, der du ruhst in felsigen Klüften, im Versteck am Felsensteig, laß mich dein Antlitz sehen, laß mich deine Stimme hören.“ Ach, was sage ich! Auch sie, auch sie, die tückischen Mörder, haben ihm die Worte des Hohenliedes zugerufen! Ja, kommt, ihr Töchter Jerusalems, und schaut den König mit der Krone, mit der sein Vaterland ihn krönte am Tag seiner Hochzeit mit dem Tod, am Tag seines Sieges als Erlöser!»

«Schau, Maria! Die Tempelwachen kommen. Komm, damit sie dich nicht schmähen.»

«Die Tempelwachen? Mich schmähen? Nein, sie sind feige. Feige sind sie. Und wenn ich, furchtbar in meinem Schmerz, auf sie zugehen würde, dann würden sie fliehen wie Satan vor Gott. Aber ich vergesse nicht, dass ich Maria bin... und ich werde mich nicht an ihnen rächen, wie es mein Recht wäre. Ich werde gut sein... Sie werden mich nicht einmal sehen. Und wenn sie mich sehen und mich fragen: „Was willst du hier?“, dann werde ich antworten: „Das Almosen, die balsamgetränkte Luft atmen zu dürfen, die aus diesem Spalt dringt.“ Ich werde sagen: „Im Namen eurer Mutter.“ Alle haben eine Mutter... Auch der reuige Schächer hat es gesagt...»

«Aber diese sind schlimmer als Räuber. Sie werden dich beschimpfen.»

«Oh, gibt es denn eine Schmähung, die ich noch nicht kenne nach den heutigen?»

Es ist Magdalena, die einen Grund findet, der überzeugend genug ist, die Schmerzenreiche zum Gehorsam zu bewegen. «Du bist gut, heilig bist du, und glaube es nur, du bist auch stark. Aber wir, was sind wir? ... Du siehst es! Die meisten sind weggelaufen. Die Übriggebliebenen fürchten sich. Der Zweifel, der schon in uns wühlt, würde uns aufgeben lassen. Du bist die Mutter. Du hast nicht nur Rechte und Pflichten deinem Sohn gegenüber, sondern auch Pflichten und Rechte gegenüber dem Eigentum deines Sohnes. Du musst mit uns zurückkehren, unter uns zurückkehren, um uns zu sammeln, uns gewissheit zu geben, um uns deinen Glauben einzuflößen. Du selbst hast doch gesagt, nach deinem gerechten Tadel unserer Furchtsamkeit und unseres mangelnden Glaubens: „Es wird einfacher für ihn sein aufzuerstehen, wenn ihn diese unnötigen Binden nicht behindern.“ Ich sage dir: Wenn es uns gelingt, uns im Glauben an seine Auferstehung zu vereinen, wird er um so rascher auferstehen. Wir würden ihn durch unsere Liebe erwecken... Mutter, Mutter meines Erlösers, komm mit uns. Komm mit uns, du, die Geliebte Gottes, um uns diese deine Liebe zu schenken. Willst du vielleicht, dass die arme Maria Magdalena erneut verlorengeht, nachdem er sie in seiner großen Barmherzigkeit gerettet hat?»

«Nein, er würde mich tadeln. Du hast recht. Ich muss zurückkehren... die Apostel suchen... die Jünger... die Verwandten... alle... sagen... ihnen sagen: „Glaubt... Er verzeiht euch...“ Wem habe ich dies schon gesagt? ... Ach! Dem Iskariot... Man muss... ja, man muss auch ihn suchen... denn er ist der größte Sünder...» Maria läßt das Haupt auf die Brust sinken, zitternd vor Abscheu, und sagt dann: «Johannes, du wirst ihn suchen. Und wirst ihn zu mir bringen. Du musst es tun. Und ich muss es tun. Vater, auch dies soll geschehen, damit die Menschheit erlöst werde. Gehen wir.»

Sie steht auf. Alle verlassen den halbdunklen Garten. Die Wachen sehen sie hinausgehen, sagen aber kein Wort.

Die staubige und durch die Füße, Steine und Knüttel der Volksmengen aufgewühlte Straße macht einen Bogen um den Kalvarienberg und führt zur Hauptstraße, die parallel zur Stadtmauer verläuft. Hier sind die Spuren des Vorgefallenen noch deutlicher. Zweimal schreit Maria auf und bückt sich, um bei dem schwachen Licht den Boden genauer zu betrachten, denn sie meint, Blut zu sehen, und glaubt, dass es von ihrem Jesus stammen könnte. Aber es sind nur Fetzen von zerrissenen Stoffen, die bei dem Durcheinander der Flucht dort liegengeblieben sind, wie mir scheint.

Das Bächlein, dass längs der Straße verläuft, murmelt leise in dem großen Schweigen, dass über allem liegt. Die Stadt scheint verlassen, so still ist es. Hier ist die kleine Brücke, die zum steilen Weg auf den Kalvarienberg führt. Und ihm gegenüber liegt das Gerichtstor. Bevor sie durch dieses Tor verschwinden, wendet sich Maria noch einmal um, um den Gipfel des Kalvarienberges zu sehen... und weint untröstlich. Dann sagt sie: «Gehen wir. Doch ihr müßt mich führen. Ich will Jerusalem mit seinen Straßen und Bewohnern nicht sehen.»

«Ja, ja. Aber beeilen wir uns. Sie sind schon dabei, die Tore zu schließen, siehst du? Und die Torwachen sind verstärkt worden. Rom fürchtet Aufruhr.»

«Da haben sie nicht unrecht. Jerusalem ist eine Tigerhöhle. Ein Volk von Mördern! Eine Räuberbande. Nicht nur nach Hab und Gut, sondern nach dem Leben strecken diese Übeltäter ihre räuberischen Klauen aus. Seit dreiunddreißig Jahren trachten sie nach dem Leben meines Kindes... Es war ein Lämmlein aus Milch und Rosen, ein Lämmlein mit goldenen Locken... Kaum konnte es „Mama“ sagen, die ersten Schrittchen machen und mit wenigen Zähnchen zwischen den Korallenlippen lächeln, kamen sie schon, um es zu töten... Nun sagen sie, dass er Gott gelästert, den Sabbat geschändet und zum Widerstand aufgerufen hat, dass er nach dem Thron getrachtet und mit Frauen gesündigt hat... Aber damals, was hatte er da getan? Welche Gotteslästerung konnte er ausgesprochen haben, als er noch kaum die Mama rufen konnte? Wie hätte er das Gesetz übertreten können, da er, der Ewig-Unschuldige, noch ein kleines unschuldiges Menschenkind war? Welchen Aufstand hätte er anzetteln können, da er nicht zum geringsten Ungehorsam fähig war! Nach welchem Thron hätte er trachten sollen? Er hatte seinen Thron auf Erden und im Himmel und verlangte nach keinem anderen: Im Himmel hatte er den Schoß des Vaters und auf der Erde meinen Schoß. Nie hat er Augen für Sinnliches gehabt, und ihr, ihr schönen, jungen Frauen, könnt es bezeugen. Aber damals... damals... beschränkte sich seine Sinnlichkeit auf das Bedürfnis nach Wärme und Nahrung, und er liebelte, ja, aber mit meiner warmen Brust, um sein Gesichtlein daran zu schmiegen und so zu schlafen an dem runden Kissen, aus dem meine Liebe als Milch floß...

Oh, mein Kind! Und sie wollten dich tot! Das Leben wollten sie dir nehmen! Deinen einzigen Besitz! Die Mutter dem Sohn und den Sohn der Mutter wollten sie nehmen, um uns zu den Elendsten und Unglücklichsten des Universums zu machen. Warum dem Lebendigen das Leben nehmen? Warum sich das Recht anmaßen, diesen Besitz, dass Leben, zu entreißen: das Gut der Blume und des Tieres, und das Gut des Menschen? Mein Jesus verlangte nichts von euch. Weder Geld, noch Schmuck, noch Häuser. Ein Haus hatte er, klein und heilig, und er verließ es aus Liebe zu euch menschlichen Hyänen. Auf das, was das Tierjunge besitzt, hat er euretwegen verzichtet; er ist arm und allein durch die Welt gezogen, ohne das Bett, dass der Gerechte für ihn gemacht hatte, ohne das Brot, dass die Mutter für ihn bereitete, und er hat geschlafen und gegessen, wo und wie er konnte. In den Häusern der Guten, wie jedes Menschenkind, oder auf dem Graslager der Wiesen, bewacht von den Sternen. An einem Tisch sitzend oder mit den Vöglein Gottes die Körner und die Früchte der wilden Brombeere teilend. Und er hat nichts von euch verlangt. Im Gegenteil, er hat euch beschenkt. Er wollte nur sein Leben, um euch durch sein Wort das Leben zu geben. Und ihr, und du, Jerusalem, ihr habt ihm das Leben geraubt. Bist du nun gesättigt von seinem Fleisch, und hast du nun deinen Durst gestillt an seinem Blut? Oder hast du noch nicht genug? Willst du dich als Hyäne – nachdem du Vampir und Geier warst – nun an seinem Leichnam weiden? Hast du noch nicht genügend geschmäht und gequält, und willst du ihm nun noch mehr antun und dich ergötzen, indem du seine sterbliche Hülle entehrst und noch einmal seine Krämpfe, sein Zittern, seine Tränen und Zuckungen bei mir, bei der Mutter des Getöteten betrachtest? ... Sind wir schon angekommen? Warum bleibt ihr stehen? Was will dieser Mann von Joseph? Was sagt er?»

Joseph ist in der Tat von einem der seltenen Vorübergehenden aufgehalten worden, und in der absoluten Stille der verlassenen Stadt kann man ihre Worte sehr gut verstehen.

«Es ist bekannt, dass du das Haus des Pilatus betreten hast. Du entweihst das Gesetz. Du wirst Rechenschaft ablegen müssen, und es ist dir nicht erlaubt, am Passahfest teilzunehmen. Du hast dich verunreinigt.»

«Auch du, Elchias. Du hast mich berührt, und ich bin voll vom Blut des Christus und seinem Todesschweiß.»

«Wie schrecklich! Fort! Fort! Dieses Blut, fort!»

«Habe keine Angst, es hat dich schon verlassen. Und verflucht.»

«Auch du bist verflucht. Und glaube nur nicht, nun da du mit Pilatus liebäugelst, dass du den Leichnam unterschlagen kannst. Wir haben vorgesorgt, und das Spiel wird ein Ende haben.»

Nikodemus hat sich langsam genähert, während die Frauen mit Johannes sich an ein tief in der Mauer liegendes, verschlossenes Tor drücken.

«Wir haben es gesehen», antwortet Joseph. «Ihr Feiglinge! Ihr habt sogar vor einem Toten Angst! Aber in meinem Garten und mit meinem Grab mache ich, was ich will.»

«Wir werden sehen.»

«Wir werden sehen. Ich werde mich an Pilatus wenden.»

«Ja, treibe jetzt nur Unzucht mit Rom!»

Nikodemus tritt vor: «Besser mit Rom als mit Teufeln wie euch, ihr Gottesmörder! Und übrigens, sag einmal: Wie kommt es, dass du schon wieder die Stimme erhebst? Eben erst bist du voller Schrecken geflohen. Ist schon wieder alles vorbei? Hat dir das noch nicht gereicht? Ist keines deiner Häuser abgebrannt? Zittere! Die Strafe ist noch nicht vorüber, sie kommt erst. Wie die Nemesis der Heiden schwebt sie über dir. Weder Wachen noch Siegel werden den Rächer hindern, zu erscheinen und zu bestrafen.»

«Verfluchter!» Elchias flieht und stößt mit den Frauen zusammen. Er erkennt sie und schleudert Maria ein furchtbares Schimpfwort ins Gesicht.

Johannes sagt kein Wort. Mit einem Panthersprung stürzt er sich auf ihn und wirft ihn zu Boden, hält ihn mit den Knien nieder, drückt ihm den Hals zu und sagt: «Bitte sie um Verzeihung, oder ich bringe dich um, du Teufel!» Und er läßt ihn nicht los, bis der andere, von den Händen des Johannes gedrückt und halb erwürgt, krächzt: «Verzeihung.»

Aber sein Schrei hat die Aufmerksamkeit der Militärstreife auf sie gezogen. «Halt! Was geschieht hier? Neuer Aufruhr? Steht alle, oder wir schlagen zu. Wer seid ihr?»

«Joseph von Arimathäa und Nikodemus. Wir hatten die Erlaubnis des Prokonsuls zur Beisetzung des getöteten Nazareners und befinden uns auf dem Rückweg vom Grab mit der Mutter, dem Sohn, den Verwandten und Freunden. Dieser hier hat die Mutter beleidigt und ist gezwungen worden, sich zu entschuldigen.»

«Nur das? Ihr hättet ihn umbringen sollen. Geht weiter. Soldaten, nehmt diesen dort fest. Was wollen diese Blutsauger denn noch? Das Herz der Mütter? Salve, ihr Juden.»

«Wie schrecklich! Das sind doch keine Menschen mehr... Johannes, sei gut zu ihnen. Denke an meinen und deinen Jesus. Er hat Vergebung gepredigt.»

«Mutter, du hast recht. Aber sie sind Verbrecher, und sie bringen mich um den Verstand. Sie sind Gotteslästerer, und sie beleidigen dich. Das kann ich nicht erlauben.»

«Ja, sie sind Verbrecher. Und sie wissen, dass sie es sind. Sieh, wie wenige von ihnen auf den Straßen sind. Und diese wenigen stehlen sich heimlich davon. Nach dem Verbrechen haben die Verbrecher Angst. Es ist schrecklich für mich, sie so fliehen zu sehen; zu sehen, wie sie sich aus Angst in ihren Häusern einsperren. Ich fühle, dass sie alle des Gottesmordes schuldig sind. Schau dort, Maria, der Alte. Er steht schon mit einem Fuß im Grab, und doch glaube ich, nun da er die Tür öffnet und das Licht auf ihn fällt, ihn gesehen zu haben, als er auf dem Kalvarienberg vorüberging und meinen Jesus anklagte... Er nannte ihn einen Räuber... Einen Räuber, meinen Jesus! ... Und dieser Jüngling, noch ein halbes Kind, hat unflätig gelästert und das Blut über sich herabgerufen... Oh, der Unglückliche! ... Und der Mann dort? Stark und kräftig wie er ist, wird er sich gewiss nicht zurückgehalten und ihn geschlagen haben. Oh, ich will nichts sehen. Hinter ihren eigentlichen Gesichtern, erkennt man das Gesicht der Seelen und... und sie gleichen nicht mehr Menschen, sondern Dämonen ... So mutig waren sie im Angesicht des Gefesselten, des Gekreuzigten ... Und nun fliehen sie, verbergen sich, schließen sich ein und haben Angst. Sie haben Angst. Vor wem? Vor einem Toten. Für sie ist er ja nichts als ein Toter, da sie leugnen, dass er Gott ist. Wovor haben sie also Angst? Vor wem verschließen sie die Türen? Vor den Gewissensbissen. Vor der Bestrafung. Doch es nützt nichts. Die Gewissensbisse sind in euch. Und sie werden euch in alle Ewigkeit verfolgen. Und die Strafe wird keine menschliche sein. Schlösser und Prügel, Türen und Barrikaden helfen nichts gegen sie. Sie kommt vom Himmel, von Gott, dem Rächer des Geopferten, und dringt durch Mauern und Türen, und mit ihrer himmlischen Flamme zeichnet sie euch für die übernatürliche Strafe, die euch erwartet. Die Welt wird zu Christus kommen, zum Sohn Gottes und meinem Sohn, sie wird zu dem kommen, den ihr durchbohrt habt, aber ihr werdet auf ewig die Gezeichneten, die Kaine eines Gottes sein und als Abschaum des menschlichen Geschlechtes gebrandmarkt sein. Ich, die ich aus euch geboren bin, ich, die ich die Mutter aller bin, muss sagen, dass ihr euch mir, eurer Tochter, gegenüber schlimmer als Stiefväter benommen habt, und dass ihr in der unbegrenzten Zahl meiner Kinder diejenigen seid, die es mir am schwersten machen, sie aufzunehmen; denn ihr seid mit dem Verbrechen an meinem Kind besudelt. Und ihr bereut es auch nicht und sagt nicht: „Du warst der Messias. Wir anerkennen dich und beten dich an.“ Da kommt eine zweite römische Militärstreife. Die Liebe ist nicht mehr auf der Erde. Der Friede ist nicht mehr unter den Menschen. Und der Haß und der Krieg flammen auf wie diese rauchenden Fackeln. Die Herrschenden haben Angst vor der aufgebrachten Menge. Sie wissen aus Erfahrung, dass die Bestie Mensch, wenn sie Blut gerochen hat, mordgierig wird... Aber fürchtet euch nicht vor diesen. Sie sind weder Löwen noch Panther, sie sind feige Hyänen. Sie überfallen nur das wehrlose Lamm. Aber sie fürchten den mit Lanzen und Autorität bewaffneten Löwen. Fürchtet nicht diese schleichenden Schakale. Euer eisenklirrender Schritt treibt sie in die Flucht, und das Aufblitzen eurer Lanzen läßt sie zahmer als Kaninchen werden. Diese Lanzen! Eine hat das Herz meines Sohnes geöffnet! Welche von ihnen? Sie zu sehen, durchbohrt mein Herz... Und doch möchte ich sie alle in meine zitternden Hände nehmen, um die zu finden, an der noch Blut klebt, und zu sagen: „Diese ist es! Gib sie mir, Soldat! Gib sie der Mutter im Gedanken an deine ferne Mutter, und ich werde für dich und für sie beten.“ Kein Soldat würde sie mir verweigern; denn sie, die Krieger, waren die Besten angesichts des Todeskampfes des Sohnes und der Mutter! Oh, warum habe ich dort oben nicht daran gedacht? Ich war, als hätte man mich auf den Kopf geschlagen. Ich war betäubt von den Hammerschlägen... Oh, diese Schläge! Wer entfernt sie aus meinem armen Kopf, hier, damit ich sie nicht mehr fühle? Die Lanze... Wie gerne möchte ich sie haben...»

«Wir können sie suchen, Mutter. Mir scheint, der Hauptmann ist sehr gut zu uns gewesen. Ich denke, er wird sie uns nicht verweigern. Morgen gehe ich zu ihm.»

«Ja, ja, Johannes. Ich bin arm. Ich habe nur wenig Geld. Aber ich gebe alles her bis zum letzten Heller, um dieses Eisen zu erhalten... Warum habe ich nicht sofort darum gebeten?»

«Maria, Teuerste, keiner von uns hat von dieser Wunde gewußt... Als du sie entdeckt hast, waren die Soldaten schon gegangen.»

«Das ist wahr... Ich bin ganz benommen vor Schmerz. Und die Kleider? Ich habe nichts von seinen Sachen! Ich würde mein Blut geben, um sie zu bekommen ...» Maria weint wieder ganz untröstlich.

Und so erreichen sie die Straße, in der sich der Abendmahlsaal befindet. Es ist höchste Zeit, denn sie ist erschöpft und schleppt sich wie eine hinfällige Greisin vorwärts. Und sie sagt es auch.

«Nur Mut! Wir sind schon da.»

«Schon da? So kurz ist der Weg, der mir heute morgen endlos erschien? Heute morgen? Ist es wirklich heute morgen gewesen? Nicht früher? Wie viele Stunden oder wie viele Jahrhunderte sind vergangen, seit ich gestern abend hier eingetreten und heute früh von hier fortgegangen bin? Bin ich es wirklich, die fünfzigjährige Mutter, oder bin ich eine hundertjährige Alte, eine noch ältere Frau mit hunderten von Jahren auf dem gebeugten Rücken und auf dem ergrauten Haupt? Es scheint mir, dass ich allen Schmerz der Welt erlitten habe und dass aller Schmerz auf meinen Schultern lastet und sie beugt unter seinem Gewicht. Kein materielles Kreuz, aber so schwer! Ein Kreuz aus Stein. Vielleicht noch schwerer als das meines Jesus. Denn ich trage das meine und das seine mit der Erinnerung an seine Qualen und der Wirklichkeit meiner Qualen. Gehen wir hinein. Denn wir müssen hineingehen. Aber es wird kein Trost sein, sondern nur Vermehrung der Qual. Durch diese Tür ist mein Sohn eingetreten zu seiner letzten Mahlzeit. Und durch diese Tür ist er hinausgegangen, um dem Tod entgegenzugehen. Und er musste seinen Fuß in die Fußstapfen seines Verräters setzen, der hinausgegangen war, um die Häscher des Unschuldigen zu rufen. An dieser Tür habe ich Judas gesehen... Judas habe ich gesehen! Und ich habe ihn nicht verflucht, sondern habe als betrübte Mutter zu ihm gesprochen. Betrübt wegen des guten und wegen des bösen Sohnes... Ich habe Judas gesehen! Den Satan habe ich in ihm gesehen! Ich, die ich immer Luzifer unter meiner Ferse zertreten, die Augen zu Gott erhoben und nie den Blick zu ihm gesenkt habe, ich habe sein Gesicht erkannt, als ich den Verräter ansah. Ich habe mit Satan gesprochen... Und er ist geflohen, denn er kann meine Stimme nicht ertragen. Ob er nun aus ihm ausgefahren ist? So dass ich mit diesem Toten reden und – ich, die Gebärerin – ihn durch das Blut eines Gottes erneut empfangen und der Gnade gebären kann? Johannes, schwöre mir, dass du ihn suchen und nicht grausam zu ihm sein wirst. Ich bin es nicht, obwohl ich ein Recht dazu hätte... Oh, laßt mich in den Saal hineingehen, in dem mein Sohn sein letztes Mahl eingenommen hat; in dem mein Kind seine letzten Worte in Frieden gesprochen hat.»

«Ja, wir werden hineingehen. Aber nun, sieh, komm hier herein, wo wir gestern waren. Ruhe dich aus. Verabschiede dich von Joseph und Nikodemus, die sich zurückziehen.»

«Ich will mich verabschieden, ja. Oh, ich grüße sie. Ich danke ihnen. Ich segne sie!»

«Aber komm, komm. Dort kannst du es mit mehr Ruhe tun.»

«Nein, hier. Joseph... Oh, ich habe niemanden dieses Namens kennengelernt, der mich nicht geliebt hätte...»

Maria des Alphäus bricht in heftiges Weinen aus.

«Weine nicht... Auch Joseph... Dein Sohn hat nur aus Liebe gefehlt. Er wollte mir auf menschliche Weise Frieden verschaffen... Aber heute! ... Du hast es gesehen... Oh, alle, die Joseph heißen, sind gut zu Maria ... Joseph, ich danke dir. Und auch dir, Nikodemus. Mein Herz wirft sich zu euren Füßen nieder, die müde sind, weil ihr seinetwegen so viel gegangen seid... um ihm die letzten Ehren zu erweisen... Ich habe nichts als mein Herz, um es euch zu geben... Und ich gebe es euch, ihr treuen Freunde meines Sohnes... und... und verzeiht der armen Mutter, was sie euch am Grab gesagt hat.»

«Oh, Heilige! Du musst verzeihen!» sagt Nikodemus.

«Sei nun brav. Ruhe dich aus in deinem Glauben. Morgen werden wir wiederkommen», fügt Joseph hinzu.

«Ja, wir werden kommen. Wir stehen dir zu Diensten.»

«Morgen ist Sabbat», bemerkt die Hausherrin.

«Der Sabbat ist tot. Wir werden kommen. Leb wohl. Der Herr sei mit euch.» Und sie gehen.

«Komm, Maria.»

«Ja, Mutter, komm.»

«Nein, macht auf. Ihr habt mir versprochen, es zu tun nach der Verabschiedung. Öffnet mir diese Türe! Ihr könnt das einer Mutter nicht verwehren. Einer Mutter, die in der Luft den Duft des Atems, des Körpers ihres Kindes riechen möchte. Wißt ihr denn nicht, dass ich ihm den Atem und den Leib gegeben habe? Ich, die ihn neun Monate getragen und dann geboren, genährt, aufgezogen und gepflegt habe? Dieser Atem gehört mir! Dieser Duft des Körpers gehört mir! Laßt ihn mich noch einmal einatmen.»

«Aber ja, Liebste. Morgen. Jetzt bist du müde. Du glühst vor Fieber. Jetzt kannst du nicht. Es geht dir schlecht.»

«Ja, schlecht. Aber nur, weil ich sein Blut immer vor Augen habe und den Geruch seines verwundeten Körpers rieche. Laßt mich den Tisch sehen, an dem er lebend und gesund gesessen ist, damit ich den Duft seines jugendlichen Körpers rieche. Öffnet! Begrabt ihn mir nicht ein drittes Mal! Ihr habt ihn mir schon unter dem Balsam und den Binden verborgen; dann habt ihr ihn mit einem Stein eingeschlossen. Warum, warum wollt ihr jetzt einer Mutter verweigern, die letzte Spur von ihm in dem Atem zu finden, den er hinter dieser Tür hinterlassen hat? Laßt mich hinein. Ich werde am Boden, auf dem Tisch und auf den Sitzen die Spuren seiner Füße und seiner Hände suchen. Und ich werde sie küssen, sie immer wieder küssen, bis meine Lippen wund werden. Ich werde suchen, suchen... Vielleicht finde ich ein Haar seines blonden Hauptes. Ein Haar, an dem kein Blut klebt. Wißt ihr überhaupt, was ein Haar des Sohnes für eine Mutter ist? Du, Maria des Kleophas, und du, Salome, ihr seid Mütter. Und ihr begreift das nicht? Johannes! Johannes! Höre mich an. Ich bin deine Mutter. Er hat mich dazu gemacht. Er! Du bist mir Gehorsam schuldig. Öffne! Ich liebe dich, Johannes. Ich habe dich immer geliebt, denn du hast ihn geliebt. Ich werde dich noch mehr lieben. Aber öffne! Mach auf, sage ich! Du willst nicht? Du willst nicht? Dann habe ich also keinen Sohn mehr? Jesus hat mir nie etwas verweigert, denn er war mein Sohn. Du verweigerst es mir. Du bist es also nicht. Du verstehst meinen Schmerz nicht... Oh, Johannes! Verzeih, verzeih... Öffne... Weine nicht... Öffne... Oh, Jesus! Jesus! ... Höre mich an... Dein Geist möge ein Wunder wirken! Öffne du deiner Mutter diese Tür, die keiner aufmachen will. Jesus! Jesus!»

Maria schlägt mit den zu Fäusten geballten Händen an die wohlverschlossene Tür. Sie ist außer sich vor Schmerz. Bis sie schließlich erbleicht und flüstert: «Oh, mein Jesus, ich komme! Ich komme!» Sie fällt kraftlos in die Arme der weinenden Frauen, die sie auffangen, um zu verhindern, dass sie an der Schwelle der Tür zusammenbricht, und sie in das Zimmer gegenüber tragen.

673. DIE NACHT DES KARFREITAGS

Maria kommt mit Hilfe der weinenden Frauen wieder zu sich und weint, hat nur noch die Kraft, zu weinen und weinen. Es scheint wirklich, dass ihr Leben sie in diesen Tränen verläßt und sich verbraucht.

Die Frauen wollen ihr eine Erfrischung reichen. Martha bietet ihr etwas Wein an. Die Hausherrin möchte, dass Maria wenigstens etwas Honig zu sich nimmt. Maria des Alphäus kniet vor ihr nieder, bietet ihr eine Schale lauwarmer Milch an und sagt: «Ich selbst habe die Ziege der kleinen Rachel gemolken» (anscheinend die Tochter der Bewohner dieses Hauses des Lazarus, von denen ich nicht weiß, ob sie Mieter oder Verwalter sind). Aber Maria will nichts. Sie will nur weinen, nur weinen... Und bitten und das Versprechen hören, dass die Apostel und die Jünger gesucht werden, dass die Lanze und die Kleider gesucht werden und dass sie, sobald der Tag angebrochen ist, in den Abendmahlsaal gehen darf, da man es ihr jetzt nicht erlauben will.

«Ja. Wenn du dich etwas beruhigst, wenn du dich etwas ausruhst, gehe ich mit dir hinein», sagt die Schwägerin. «Wir werden hineingehen, und ich werde dir auf den Knien jede kleinste Spur von Jesus suchen...» und Maria des Alphäus schluchzt. «Aber siehst du? Hier hast du den Kelch und das von ihm gebrochene Brot, dass er für die Eucharistie verwendet hat. Gibt es heiligere Andenken? Siehst du? Johannes hat sie schon heute morgen für dich gebracht, damit du sie heute abend siehst... Der arme Johannes. Er hat Angst und weint...»

«Angst? Warum? Komm, Johannes.»

Johannes tritt hervor aus der Dunkelheit, denn im Raum brennt eine einzige kleine Lampe auf dem Tisch neben den Leidenswerkzeugen. Er kniet vor Maria nieder, die ihn liebkost und fragt: «Warum hast du Angst?»

Und Johannes küßt ihre Hände und sagt weinend: «Weil du dich nicht wohlfühlst. Weil du Fieber hast und krank bist... Weil du dich nicht beruhigen kannst. Und wenn du so weitermachst, wirst du sterben, wie er gestorben ist...»

«Oh, wenn das nur wahr wäre!»

«Nein! Mutter! Mama! Oh, es ist viel schöner, „Mama“ zu sagen, wie ich es zu meiner Mama sage... Laß es mich sagen... Ich finde keinen Unterschied zwischen meiner Mutter und dir, und ich liebe dich sogar noch mehr als sie, denn du bist die Mama, die er mir gegeben hat, und du bist seine Mama. Und du darfst keinen zu großen Unterschied zwischen dem von dir geborenen Sohn und dem dir übergebenen Sohn machen... Liebe mich ein wenig, wie du ihn liebst... Wenn er zu dir sagen würde: „Ich habe Angst, dass du sterben wirst“ ' würdest du dann antworten: „Oh, wenn das nur wahr wäre!“? Nein, du würdest nicht so reden. Es würde dich schmerzen, gehen zu müssen und ihn in einer Welt von Wölfen zurückzulassen. Ihn, dein Lamm... Und um mich sorgst du dich nicht? ... Ich bin viel mehr Lamm als er. Nicht was Güte und Reinheit betrifft, sondern hinsichtlich Dummheit und Angst. Wenn du mir fehlst, wird der arme Johannes von den Wölfen zerrissen, ohne auch nur ein Blöken von sich geben zu können, dass von seinem Meister spricht... Willst du, dass er so stirbt, ohne ihm gedient zu haben? Dumm im Sterben wie im Leben? Nein, nicht wahr? Darum, Mama, versuche dich zu beruhigen... Tue es für ihn... Oh! Sagst du nicht, dass er aufersteht? Ja, du sagst es, und es ist wahr. Und du willst also, dass du fehlst im Haus, wenn er aufersteht? Denn ganz gewiss wird er hierher kommen... Oh, armer, armer Jesus, wenn er anstelle des Ausrufes deiner Liebe unsere Klagelieder hören muss, wenn er sein gemartertes, glorreiches Haupt nicht an deine Brust legen kann und nur dein verschlossenes Grab vorfindet. Du musst leben. Um ihn zu begrüßen, wenn er wiederkehrt... Ich sage nicht „uns zuliebe“. Wir verdienen nur Tadel für unser Verhalten. Aber ihm und dir zuliebe. Oh, wie wird die Begegnung sein? Und er, wie wird er sein? Mutter der Weisheit, Mama des törichten Johannes, du, die du alles weißt, sage uns, wie er sein wird, wenn er uns nach der Auferstehung erscheint.»

«Die Wunden an den Beinen von Lazarus hatten sich geschlossen, aber man konnte noch die Narben sehen. Und die Bandagen waren voller Fäulnis», sagt Martha.

«Wir mussten ihn waschen...» fügt Maria hinzu.

«Und er war schwach, und wir mussten ihm zu essen geben auf Anordnung des Meisters», sagt wiederum Martha.

«Der Sohn der Witwe von Naim war verstört und glich einem Kind, dass noch nicht richtig gehen und sprechen kann, und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück, die ihn lehren sollte, wieder zu leben. Und das Töchterlein des Jairus hat er selbst die ersten Schritte machen lassen ...» sagt Johannes.

«Ich denke, dass mein Herr uns einen Engel senden wird, um uns sagen zu lassen: „Kommt und bringt ein sauberes Gewand.“ Und meine Liebe hat es schon vorbereitet. Es ist im Palast. Ich konnte es nicht selbst weben. Aber ich habe es von meiner Amme weben lassen, die nun hinsichtlich meiner Zukunft beruhigt ist und nicht mehr weint. Ich habe das kostbarste Linnen genommen und von Plautina den Purpur bekommen. Noemi hat ihn in die Borte gewebt, und ich habe den Gürtel, die Börse und das Talith gefertigt und bei Nacht bestickt, um nicht gesehen zu werden. Ich habe von dir gelernt, Mutter. Es ist keine vollkommene Arbeit; aber mehr als die Perlen, aus denen sein Name auf dem Gürtel und auf der Börse besteht, schmücken sie die Diamanten der Tränen meiner Liebe und meine Küsse. Jeder Stich ist ein Herzschlag der Verehrung für ihn. Und ich werde sie ihm bringen. Das erlaubst du doch, nicht wahr?»

«Oh! ... Ich hätte nie gedacht, dass sie ihm sein Gewand nehmen würden... Ich kenne die Bräuche und die Härte der Welt nicht... Ich glaubte, sie zu kennen... (und Tränen rinnen wieder über die wachsbleichen Wangen) aber nun sehe ich, dass ich noch nichts wußte... Ich dachte: „Er wird das Kleid seiner Mutter auch nachher tragen können.“ Es hat ihm so gut gefallen. Er hatte es sich so gewünscht. Schon vor langer Zeit hat er mir gesagt: „Du sollst ein Kleid anfertigen, dass so und so aussieht, und es mir für das Passahfest bringen. Denn Jerusalem soll mich im Purpurgewand des Königs sehen...“ Oh, diese Wolle, die weißer war als Schnee, wurde vor den Augen Gottes und vor meinen Augen rot, während ich sie spann, denn mein Herz wurde bei diesen Worten erneut verwundet... Die anderen Wunden hatten sich nach Jahren und Monaten zwar noch nicht geschlossen, aber sie bluteten nicht mehr. Aber diese! Jeden Tag, jede Stunde hat sich das Schwert in meinem Herzen gedreht: „Ein Tag weniger! Eine Stunde weniger! Dann wird er tot sein!“ Oh! Oh! ... Und das Gespinst an der Spindel oder auf dem Webstuhl erschien mir rot... Es wurde dann in Farbe getaucht, für die Weit... Aber es war schon vorher rot...» Maria weint wieder.

Sie versuchen sie aufzumuntern, indem sie von der Auferstehung sprechen. Susanna fragt. «Was sagst du? Wie wird er sein nach der Auferstehung? Und wie wird er auferstehen?»

Und Maria, verwirrt und blind in dieser Stunde des Martyriums der Erlösung, antwortet: «Ich weiß es nicht... Ich weiß nichts mehr... Nur, dass er tot ist...!» Und sie weint wieder heftig, küßt die Leinwand, die die Lenden ihres Sohnes bedeckt hat, drückt sie an ihr Herz und wiegt sie, als wäre es ein Kind...

Sie berührt die Nägel, die Dornen, den Schwamm und schreit auf: «Dies! Diese Dinge hat dir dein Vaterland gegeben! Eisen, Dornen, Essig und Galle! Und Beleidigungen, Schmähungen, Beschimpfungen! Und unter allen Söhnen Israels musste es ein Cyrenäer sein, der dir das Kreuz trug. Dieser Mensch ist mir heilig wie ein Bräutigam. Und wenn ich einen anderen kennen würde, der meinem Sohn zu Hilfe gekommen ist, würde ich ihm die Füße küssen. Aber hat denn niemand Mitleid gehabt? Geht hinaus! Geht! Es schmerzt mich auch, euch zu sehen. Denn ihr alle, ihr alle konntet nicht einmal eine weniger grausame Folter erlangen. Ihr unnützen und faulen Knechte eures Königs! Hinaus!» Maria ist furchtbar bei diesem Ausbruch. Aufrecht und starr steht sie da und erscheint größer als sie ist mit ihren gebieterischen Augen und dem ausgestreckten Arm, der zur Tür weist. Sie befiehlt wie eine Königin auf dem Thron.

Alle gehen ohne Widerrede hinaus, um sie nicht noch mehr zu erregen. Sie setzen sich vor die geschlossene Tür und horchen auf ihre Klagen und jeglichen Ton, der von ihr kommen könnte. Aber nach den Geräuschen des zurückgeschobenen Stuhles und ihrer auf den Boden fallenden Knie – denn sie kniet nieder und lehnt das Haupt an den Tisch, auf dem die Gegenstände der Passion liegen – ist nichts mehr zu hören als ihr unaufhörliches, trostloses Weinen.

Sie spricht leise, so leise, dass die draußen ihre Worte nicht hören können: «Vater, Vater, Verzeihung! Ich werde stolz und böse. Aber du siehst, es ist wahr, was ich sage. Es war eine so große Menge um ihn. Ganz Palästina ist an diesem Fest in den heiligen Mauern versammelt... Heilig? Nein, sie sind nicht mehr heilig... Sie wären es geblieben, wenn er in ihnen gestorben wäre. Aber Jerusalem hat ihn ausgespien wie ekelerregenden Auswurf. Deshalb ist in Jerusalem nur das Verbrechen... Und in der großen Menge, die ihm folgte, fand sich nicht einmal eine Handvoll, die Druck ausgeübt hätte, ich sage nicht, um ihn zu retten. Denn er musste sterben, um zu erlösen. Aber um ihm einen weniger qualvollen Tod zu erlangen. Sie haben sich verborgen gehalten oder sind geflohen... Mein Herz bäumt sich auf vor so viel Feigheit. Ich bin die Mutter. Deshalb verzeih meine Sünde der stolzen Härte...» und sie weint.

Draußen sitzen die anderen wie auf Kohlen, und dies aus verschiedenen Gründen.

Der Hausherr, der ausgegangen war, um sich in der Stadt umzuhören, ist mit schrecklichen Nachrichten zurückgekehrt. Man sagt, dass viele bei dem Erdbeben umgekommen sind, dass viele bei Zusammenstößen zwischen den Anhängern des Nazareners und den Juden verletzt wurden, dass viele verhaftet wurden, dass es neue Hinrichtungen geben wird nach Aufständen und Drohungen gegen Rom, und dass Pilatus die Gefangennahme aller Jünger des Nazareners und der Vorsteher des Synedriums, die entweder in der Stadt geblieben oder schon irgendwohin in Palästina geflüchtet sind, angeordnet hat, dass Johanna sterbend in ihrem Palast liegt, und dass Manaen von Herodes eingesperrt wurde, weil er ihn vor dem ganzen Hof als Komplizen der Gottesmörder angeklagt hat. Ein ganzer Haufen katastrophaler Nachrichten...

Die Frauen stöhnen. Sie fürchten nicht so sehr für sich selbst, sondern für die Kinder und die Ehemänner. Susanna denkt an ihren Mann, der in Galiläa als Jünger Jesu bekannt ist. Maria des Zebedäus denkt an den ihren, der als Gast bei einem Freund weilt, und an den Sohn Jakobus, von dem sie seit dem Abend zuvor keine Nachricht mehr hat. Und Martha schluchzt: «Sie sind sicher schon nach Bethanien gegangen! Wem ist nicht bekannt, was Lazarus für den Meister war?»

«Aber er wird doch von Rom beschützt», entgegnet Maria Salome.

«Oh! Beschützt! Wer weiß, welche Anschuldigungen die Vorsteher Israels gegen ihn bei Pilatus vorbringen bei dem Haß, den sie gegen uns hegen... Oh! Gott!» Martha rauft sich die Haare und schreit: «Die Waffen! Die Waffen! Das Haus ist voll davon... und auch der Palast! Ich weiß es. Heute morgen bei Sonnenaufgang ist Levi, der Verwalter, gekommen und hat mir gesagt... Aber du weißt das ja auch schon! Und du hast es den Juden auf dem Kalvarienberg gesagt... Törichte! Du hast den Grausamen damit die Waffe in die Hand gegeben, um Lazarus zu töten...!»

«Ich habe es gesagt, ja. Ich habe, ohne es zu wissen, die Wahrheit gesagt. Aber so schweig doch, du verschrecktes Huhn! Was ich gesagt habe, ist die sicherste Garantie für Lazarus. Sie werden sich wohl hüten, sich in Gefahr zu begeben und dort zu suchen, wo sie wissen, dass Bewaffnete sind! Sie sind feige!»

«Die Juden, ja. Aber die Römer nicht!»

«Ich fürchte Rom nicht. Es ist gerecht und klug in seinen Anordnungen.»

«Maria hat recht», sagt Johannes. «Longinus hat zu mir gesagt: „Ich hoffe, dass man euch in Frieden läßt. Wenn dem aber nicht so ist, so komm oder schicke jemanden zum Prätorium. Pilatus ist den Jüngern des Nazareners wohlgesinnt. Er war es auch ihm. Wir werden euch verteidigen.“»

«Aber wenn die Juden selbst handeln? Gestern abend waren sie die Häscher Jesu! Und wenn sie sagen, dass wir Gotteslästerer sind, dann haben sie das Recht, uns gefangenzunehmen. Oh, meine Söhne! Vier Söhne habe ich! Wo können Joseph und Simon sein? Sie waren auf dem Kalvarienberg und sind weggegangen, als Johanna es nicht mehr aushielt. Sie wollten den Frauen helfen und sie verteidigen. Sie, die Hirten, Alphäus... alle! Oh, man hat sie gewiss schon getötet. Hast du gehört, dass Johanna im Sterben liegt? Sicher durch eine Verletzung. Und damit der Pöbel sich nicht an einer Frau vergreift, werden meine Söhne sie verteidigt haben und nun tot sein! ... Und Judas und Jakobus? Mein kleiner Judas! Mein ein und alles! Und Jakobus, der so sanft ist wie ein Mädchen! Oh, ich habe keine Söhne mehr! Nun geht es mir wie der Mutter der Makkabäer...!»

Sie weinen alle verzweifelt. Alle, mit Ausnahme der Hausherrin, die gegangen ist, um ein Versteck für ihren Mann zu suchen, und Maria Magdalena, die nicht weint. Aber ihre Augen sprühen Feuer, und sie ist wieder die herrschsüchtige Frau von einst geworden. Sie sagt nichts. Aber sie schaut die niedergeschlagenen Gefährtinnen verächtlich an, und ihre Augen sagen ganz klar: «Ihr Memmen!»

So vergeht die Zeit... Ab und zu steht jemand auf, öffnet leise die Tür, schaut hinein und macht die Tür wieder zu.

«Was tut sie?» fragen die anderen.

Und die, die gerade nachgesehen hat, antwortet: «Sie kniet immer noch und betet», oder: «Es sieht so aus, als rede sie mit jemandem», oder aber: «Sie ist aufgestanden und geht gestikulierend im Zimmer auf und ab.»

DIE KLAGE DER JUNGFRAU

«Jesus! Jesus! Wo bist du? Hörst du mich noch? Hörst du deine arme Mutter, die deinen heiligen, gepriesenen Namen ruft, nachdem sie ihn so viele Stunden nur im Herzen genannt hat? Deinen heiligen Namen, der meine Liebe war, die Liebe meiner Lippen; meiner Lippen, die Honigsüße verspürten beim Nennen deines Namens; meiner Lippen, die nun, wenn sie ihn nennen, nur die Bitterkeit zu trinken scheinen, die auf deinen Lippen zurückgeblieben ist. Die Bitterkeit der furchtbaren Mischung... Dein Name, die Liebe meines Herzens, dass vor Freude schwoll, wenn es ihn aussprach, so wie es sich weitete, um dir sein Blut zu geben, um dich zu empfangen und dich mit ihm zu bekleiden, als du vom Himmel zu mir kamst, so klein, so winzig, dass du im Blütenkelch der wilden Minze Platz gefunden hättest.

Du, der du so groß bist, du, der Mächtige, hast dich für das Heil der Welt gedemütigt und bist Mensch geworden. Dein Name, der Schmerz meines Herzens, nun, da sie dich den Liebkosungen deiner Mutter entrissen haben, um dich den Händen der Henker auszuliefern, die dich bis zum Tod gemartert haben. Mein Herz ist zermalmt von diesem deinen Namen, den ich so lange in mir verschließen musste und der immer lauter schrie, je größer dein Schmerz wurde, bis es zermalmt war wie unter dem Tritt eines Riesen. O ja, mein Schmerz ist riesengroß und zermalmt und zerreißt mich, und es gibt nichts, was ihn lindern könnte.

Wem soll ich deinen Namen sagen? Nichts antwortet meinem Schrei. Selbst wenn ich so laut schreien würde, dass der Stein, der dein Grab verschließt, zerspringt, du würdest mich nicht hören, denn du bist tot. Hörst du deine Mutter nicht mehr? Wie oft hat sie dich, mein Sohn, in diesen vierunddreißig Jahren gerufen! Seit ich wußte, dass ich Mutter sein und dass der Name meines Kindes Jesus sein würde. Du warst noch nicht geboren, da streichelte ich meinen Leib, in dem du heranwuchsest, und rief dich leise: „Jesus“, und es schien mir, als würdest du dich bewegen, um mich „Mama“ zu nennen! Für mich hattest du schon eine Stimme, ich erträumte sie mir, deine Stimme. Ich hörte deine Stimme schon, bevor sie war. Und als ich sie dann vernahm, zart wie die Stimme eines neugeborenen Lämmchens und zitternd in der Kälte der Geburtsnacht, da lernte ich die höchste Freude kennen... Und ich glaubte, den Abgrund des Schmerzes kennengelernt zu haben, da ich die Tränen meines Kindes sah, dass fror und sich nicht wohlfühlte, dass seine ersten Erlösertränen weinte, und ich hatte weder Feuer noch Wiege und konnte nicht an deiner Statt leiden, Jesus. Ich hatte nur meine Brust, um dich zu wärmen und zu betten, und meine Liebe, um dich anzubeten, mein heiliges Kind.

Ich glaubte, den Abgrund des Schmerzes kennengelernt zu haben... Aber es war erst das Morgengrauen, der Beginn dieses Schmerzes. Nun ist es Mittag. Nun habe ich die Tiefe des Abgrunds erreicht, nach einem Abstieg von vierunddreißig Jahren. So vieles hat mich hinabgestoßen und mich heute niedergestreckt in dieser furchtbaren Tiefe deines Kreuzes.

Als du klein warst, da habe ich dich gewiegt und gesungen: „Jesus! Jesus!“ Gibt es eine schönere und heiligere Harmonie als diesen Namen, der die Engel des Himmels lächeln macht? Dein Name war für mich schöner als der süße Gesang der Engel in der Nacht deiner Geburt. Ich sah durch ihn in den Himmel... den ganzen Himmel sah ich in diesem Namen. Und nun, da du tot bist und mich nicht hörst und mir nicht mehr antwortest, als ob du nie gewesen wärest, sehe ich die Hölle, wenn ich ihn ausspreche. Die ganze Hölle. Nun weiß ich, was es heißt, verdammt zu sein. Nicht mehr sagen zu können: „Jesus“! Schrecklich! Schrecklich! Schrecklich! ...

Wie lange wird diese Hölle für deine Mutter dauern? Du hast gesagt: „In drei Tagen werde ich diesen Tempel wieder aufrichten.“ Den ganzen Tag schon wiederhole ich mir diese Worte, damit ich nicht tot umfalle; um bereit zu sein, dich bei deiner Rückkehr zu begrüßen und dir wieder dienen zu können... Aber wie werde ich drei Tage lang deinen Tod ertragen können? Drei Tage lang tot, du mein Leben?

Wie ist es möglich, dass du, der du alles weißt, weil du die unendliche Weisheit bist, nichts von der Verzweiflung deiner Mutter weißt? Kannst du es dir nicht vorstellen, wenn du dich erinnerst, wie ich dich in Jerusalern verlor und du mich sahst, wie ich die dich umgebende Menge teilte mit dem Gesicht einer Schiffbrüchigen, die nach endlosem Kampf mit den Wellen und dem Tod den Strand erreicht, mit dem Gesicht einer erschöpften, ausgebluteten, gealterten, zerschmetterten Gefolterten? Und damals konnte ich dich nur verloren glauben. Ich konnte mich der Hoffnung hingeben, dass es nur das war. Heute nicht. Heute nicht. Ich weiß, dass du tot bist. Es gibt keine Hoffnung. Ich habe gesehen, wie man dich umgebracht hat. Hier ist der Beweis. Selbst wenn der Schmerz mein Gedächtnis trüben würde, hier ist dein Blut auf meinem Schleier, dass mir sagt: „Er ist tot. Er hat kein Blut mehr! Dies ist der letzte Tropfen aus seinem Herzen!“ Aus seinem Herzen! Aus dem Herzen meines Kindes. Meines Sohnes! Meines Jesus! Oh, Gott! Barmherziger Gott, erinnere mich nicht daran, dass sie ihm das Herz durchbohrt haben...

Jesus, ich kann nicht allein hier bleiben, während du allein dort bist. Ich, die ich nie die Wege der Welt und die Menschenmengen geliebt habe, und du weißt es, bin dir immer häufiger gefolgt, seit du Nazareth verlassen hast, um nicht fern von dir leben zu müssen. Ich habe Neugier und Spott ertragen, und ich zähle die Mühen nicht auf, denn sie wurden bei deinem Anblick zu nichts. Ich wollte nur dort leben, wo du warst. Und nun bin ich hier allein. Und du bist dort allein. Warum haben sie mich nicht in deinem Grab gelassen? Ich hätte mich neben dein kaltes Bett gesetzt, eine deiner Hände in meinen Händen, um dich fühlen zu lassen, dass ich in deiner Nähe bin... Nein, um zu fühlen, dass du in meiner Nähe bist. Du fühlst nichts mehr. Du bist tot!

Wie viele Nächte habe ich an deiner Wiege verbracht, betend, liebend, von deinem Anblick beseligt. Willst du, dass ich dir sage, wie du geschlafen hast und deine Fäustchen wie zwei Blütenknospen neben dem heiligen Gesichtlein lagen? Soll ich dir sagen, wie du im Schlaf gelächelt, dich gewiss an die Milch deiner Mama erinnert und schlafend den Mund bewegt und gesaugt hast? Soll ich dir sagen, wie du dann erwacht bist, die Äuglein geöffnet und gelacht hast, als du mich über dich geneigt sahst, wie du die Händchen in ungeduldiger Freude ausgestreckt hast, um in die Arme genommen zu werden, und mit einem leisen Jauchzen, mit dem Triller einer Mönchsgrasmücke deine Mahlzeit verlangt hast? Oh, wie selig war ich, wenn du an meiner Brust lagst und ich die Wärme deiner Wange und die Liebkosungen deiner kleinen Händchen fühlte!

Du wolltest nie ohne deine Mama sein. Und nun bist du allein! Verzeih mir, Kind, dass ich dich allein gelassen habe; dass ich nicht zum ersten Mal in meinem Leben aufbegehrt habe und bei dir geblieben bin. Dort ist mein Platz. Ich würde mich nicht so untröstlich fühlen, wenn ich an deinem Totenbett wäre, dich wie einst umwickeln und deine Binden wechseln

könnte... Auch wenn du mich nicht anlächeln und nicht mit mir sprechen könntest, es würde mir scheinen, als wärst du wieder mein Kind. Ich würde dich an mein Herz drücken, damit du die Kälte des Steins, die Härte des Marmors nicht fühlst. Habe ich dich nicht auch heute in meinen Armen gehalten? Auf dem Schoß einer Mutter ist immer Platz für ihren Sohn, auch wenn er schon ein Mann ist. Der Sohn ist immer das Kind für seine Mutter, auch wenn er vom Kreuz abgenommen und von Wunden bedeckt ist.

Wie viele, wie viele Wunden! Wie viele Schmerzen! Oh, mein Jesus, mein ganz von Wunden bedeckter Jesus! So verwundet! So getötet! Nein. Nein. Nein, Herr, dass kann nicht wahr sein! Ich bin von Sinnen! Jesus tot? Ich fiebere. Jesus kann nicht sterben! Leiden, ja, aber nicht sterben! Er ist das Leben! Er ist der Sohn Gottes. Er ist Gott. Und Gott stirbt nicht.

Stirbt nicht? Aber warum hat er dann „Jesus“ geheißen? Was bedeutet „Jesus“? Es bedeutet... Oh, es bedeutet „Erlöser“! Er ist tot! Er ist tot, weil er der Erlöser ist. Er musste alle erlösen und sich selbst dahingeben... Ich fiebere nicht, o nein. Ich bin nicht von Sinnen. Nein. Wäre ich es nur! Ich würde weniger leiden. Er ist tot. Hier ist sein Blut. Hier ist seine Dornenkrone. Hier sind die drei Nägel. Mit diesen, mit diesen haben sie ihn durchbohrt!

Menschen, seht, womit ihr Gott, meinen Sohn, durchbohrt habt! Und ich muss euch verzeihen. Und ich muss euch lieben. Denn auch er hat verziehen. Denn er verlangt von mir, dass ich euch liebe. Er hat mich zu eurer Mutter gemacht, zur Mutter der Mörder meines Sohnes! Eines seiner letzten Worte im Kampf gegen das Todesröcheln war: „Mutter, siehe da deinen Sohn... deine Kinder.“ Selbst wenn ich nicht die Gehorsame wäre, so hätte ich doch heute gehorchen müssen, denn es war der Befehl eines Sterbenden.

Sieh, Jesus, ich verzeihe. Ich liebe sie. Ach! Es zerreißt mir das Herz bei dieser Verzeihung, bei dieser Liebe! Hörst du, dass ich ihnen verzeihe und sie liebe? Ich bete für sie. Schau, ich bete für sie... Ich schließe die Augen, um diese Marterwerkzeuge nicht zu sehen, damit ich ihnen verzeihen, damit ich sie lieben, damit ich für sie beten kann. Jeder Nagel soll meinen Willen, sie nicht zu lieben, ihnen nicht zu verzeihen und nicht für deine Henker zu beten, kreuzigen.

Ich will und muss denken, dass ich an deiner Wiege weile. Auch damals habe ich für die Menschen gebetet. Doch damals war es leicht. Du lebtest, und ich – obwohl ich wußte, dass die Menschen grausam sind – hätte niemals geglaubt, dass sie so grausam gegen dich sein könnten, der du ihnen so viel Gutes getan hast. Ich betete, da ich überzeugt war, dass dein Wort sie bessern würde. In meinem Herzen sagte ich zu ihnen, wenn ich sie betrachtete: „Ihr seid jetzt böse, krank. Doch bald wird er zu euch sprechen und Satan in euch besiegen. Er wird euch das verlorene Leben zurückgeben.“ Das verlorene Leben! Du, du hast ihretwegen dein Leben verloren, mein Jesus!

Hätte ich damals, als du noch in den Windeln lagst, den Schrecken dieses Tages sehen können, wäre meine süße Milch vor Schmerz zu Gift geworden! Simeon hat es gesagt: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Ein Schwert? Eine Unzahl von Schwertern! Wie viele Wunden haben sie dir geschlagen, Sohn? Wie viele Seufzer hast du ausgestoßen? Wie viele Krämpfe hast du erlitten? Wie viele Blutstropfen hast du vergossen? Sieh, jeder ist ein Schwert für mich. Es sind eine Unzahl von Schwertern. An dir ist kein Flecken Haut, dass nicht verwundet ist. An mir ist keine Stelle, die nicht durchbohrt ist. Sie durchbohren mein Fleisch und dringen bis ins Herz.

Als ich deine Geburt erwartete, bereitete ich die Binden und Windeln vor und spann das weichste Leinen der Erde. Ich achtete nicht auf den Preis, um das glatteste Garn zu erhalten. Wie schön warst du in den Windeln deiner Mutter! Alle sagten zu mir: „Frau, dein Kind ist schön!“ Du warst schön. Aus dem weißen Linnen schaute dein rosiges Gesichtlein hervor. Du hattest zwei Äuglein blauer als der Himmel, und dein Köpfchen war von einem goldenen Flaum bedeckt, so leicht und blond waren deine Haare. Sie dufteten nach frisch aufgesprungenen Mandelblüten. Alle glaubten, ich würde dich parfümieren. Nein. Mein Kleinod hatte nur den Duft der von seiner Mutter gewaschenen Windeln, die ihr Herz und ihre Lippen geküßt hatten. Niemals wurde ich müde, für dich zu arbeiten.

Und nun? Nun kann ich nichts mehr für dich tun. Seit drei Jahren bist du von zu Hause fort. Aber immer noch warst du der einzige Inhalt meiner Tage. Ich dachte an dich, an deine Kleider, an deine Nahrung. Ich rührte das Mehl und bereitete Brot, pflegte die Bienen, um Honig für dich zu haben, und wachte über die Bäume, damit sie dir Obst gaben. Wie hast du dich über die Dinge gefreut, die deine Mutter dir brachte! Keine Speise einer reichen Tafel und kein Gewand aus kostbarem Tuch war dir so lieb, wie die von den Händen deiner Mutter gewebten, genähten, gepflegten und geernteten Dinge. Wenn ich dich besuchte, schautest du sofort auf meine Hände wie damals, als du klein warst und Joseph und ich dir unsere armen Geschenke gaben, um dir zu zeigen, dass du unser König warst. Du bist nie naschhaft gewesen, mein Kind, aber du hast die Liebe gesucht; sie war deine Nahrung, und in unserer Fürsorge hast du sie gefunden. Auch jetzt hast du sie gefunden und gesucht, mein armer Sohn, der du von der Welt so wenig geliebt wirst!

Nun ist alles vorbei. Alles vollbracht. Deine Mama kann nichts mehr für dich tun. Du brauchst nichts mehr... Nun bist du allein... Und auch ich bin allein... Oh, glücklicher Joseph, der du diesen Tag nicht erleben musstest. Hätte doch auch ich ihn nicht mehr erleben müssen! Aber dann hättest du nicht einmal den Trost gehabt, deine arme Mutter zu sehen. Du wärest am Kreuz allein gewesen, so wie du nun im Grab allein bist. Allein mit deinen Wunden.

Oh! Gott! Gott, wie viele Wunden hat dein Sohn, mein Sohn! Wie konnte ich sie ansehen, ohne darüber zu sterben, ich, die ich zu Tode erschrak, wenn er sich 1 Kind verletzte?

Einmal bist du im Garten von Nazareth gefallen und hast dich an der Stirn verletzt. Nur einige Blutstropfen. Aber ich, die ich schon schwach wurde, als ich bei deiner Beschneidung ein wenig Blut sah – und Joseph musste mich stützen, da ich wie eine Sterbende zitterte – hatte Angst, dass diese kleine Wunde dich töten könnte, und mehr mit Tränen als mit Wasser und Öl habe ich sie behandelt. Und ich habe mich erst zufrieden gegeben, als kein Blut mehr kam. Ein andermal, als du zu arbeiten lerntest, hast du dich mit der Säge verletzt. Eine kleine Wunde nur. Aber mir war, als hätte mich die Säge in zwei geteilt. Und ich hatte keine Ruhe, bis nach sechs Tagen deine Hand wieder geheilt war.

Und nun? Und nun? Nun sind deine Hände, deine Füße, deine Seite geöffnet. Nun ist dein ganzes Fleisch zerfetzt und dein Antlitz zerschlagen. Dieses Antlitz, dass ich kaum mit Küssen zu berühren wagte, ist von der Stirne bis zum Nacken eine einzige Wunde. Und niemand hat dir Arznei und Trost gegeben.

Sieh mein Herz, o Gott, dass du in meinem Kind getroffen hast! Sieh es an! Ist es nicht verwundet wie der Körper deines und meines Sohnes? Die Geißeln haben mich wie Hagel getroffen, während er geschlagen wurde. Was bedeutet die Entfernung für die Liebe? Ich habe die Martern meines Sohnes erlitten. Hätte doch nur ich allein sie erlitten! Läge doch ich auf dem Grabtisch! Sieh mich an, o Gott! Tropft etwa nicht Blut aus meinem Herzen? Da ist die Dornenkrone. Ich fühle sie. Sie ist ein Reif, der mich drückt und durchbohrt. Hier sind die Löcher der Nägel: drei Schwerter in meinem Herzen.

Oh, diese Schläge! Diese Schläge! Warum ist der Himmel nicht auf die Erde herabgestürzt bei diesen sakrilegischen Schlägen in das Fleisch Gottes? Und ich durfte nicht schreien! Ich durfte mich nicht auf sie stürzen, um den Mördern die Waffe zu entreißen und damit mein sterbendes Kind zu verteidigen! Ich musste zuhören, zuhören, und durfte nichts tun! Ein Schlag auf den Nagel, und der Nagel dringt in das lebendige Fleisch. Ein weiterer Schlag, und er dringt noch tiefer ein. Und noch einer und wieder einer, und sie brechen die Knochen und zerreißen die Nerven, und das Fleisch meines Kindes wird durchbohrt und gleichzeitig das Herz seiner Mutter.

Und als sie dich am Kreuz aufgerichtet haben? Wie sehr musst du da gelitten haben! Heiliger Sohn! Ich sehe immer noch deine Hand aufreißen bei der Erschütterung durch den Fall. Mein Herz ist wie sie zerrissen.

Ich bin verwundet, zerschlagen, gegeißelt, getroffen und durchbohrt wie du. Ich war nicht mit dir am Kreuz. Aber schau sie an, deine Mutter! Ist sie anders als du? Nein, es gibt keinen Unterschied in unserem Martyrium. Nur ist deines zu Ende, und meines dauert noch an. Du hörst nicht mehr die verlogenen Anklagen. Ich aber höre sie. Du hörst nicht mehr die schrecklichen Flüche. Ich aber höre sie immer noch. Du spürst nicht mehr die Stiche der Dornen, den Schmerz der Nägel, den Durst und das Fieber. Ich aber fühle überall die brennenden Stiche und sterbe vor Durst im Fieberwahn.

Hätten sie mir wenigstens erlaubt, dir einen Tropfen Wasser zu geben! Meine Tränen, wenn die Grausamkeit der Menschen dem Schöpfer schon das von ihm geschaffene Wasser verweigerte. Ich habe dir so viel Milch gegeben, denn wir waren arm, mein Sohn, und auf der Flucht nach Ägypten haben wir so viel verloren. Wir mussten uns wieder ein Dach über dem Kopf, Möbel, Kleider und Nahrung beschaffen, und wir wußten nicht, wie lange das Exil dauern würde und was wir bei der Rückkehr in die Heimat vorfinden würden. Ich habe dir länger als üblich Milch gegeben, um dich nicht den Mangel an Nahrung spüren zu lassen. Bis wir die kleine Ziege hatten, war ich, o Kind deiner Mutter, deine kleine Ziege... Du hast schon so viele Zähnchen gehabt und damit zugebissen... Oh, welche Freude, dich bei deinen kindlichen Spielen lachen zu sehen! ... Du wolltest gehen, denn du warst so stark und gesund. Stundenlang habe ich dich gehalten, ohne dass mein Rücken schmerzte, wenn ich über dich gebeugt war und dich das Laufen lehrte und du bei jedem Schrittchen „Mama! Mama!“ sagtest. Oh, welche Seligkeit, dich diesen Namen singen zu hören.

Auch heute hast du gesagt: „Mama! Mama!“ Doch deine Mutter konnte dich nur sterben sehen. Nicht einmal deine Füße konnte ich liebkosen! Die Füße? Oh, ich hätte sie nicht berührt, auch wenn meine Hände sie hätten erreichen können, um deine Schmerzen nicht zu vermehren. Wie mussten deine armen Füße leiden, o mein Jesus! Hätte ich doch zu dir hinaufsteigen und mich zwischen deinen Körper und das Kreuz schieben können, damit er nicht in den Krämpfen des Todeskampfes auf das Holz aufschlägt. Ich höre noch deinen Kopf beim letzten Aufbäumen gegen das Kreuz schlagen. Und dieser Klang, dieser Klang läßt mich den Verstand verlieren. Es ist, als hätte ich einen Hammer in meinem Kopf.

Komm zurück, komm zurück, mein lieber Sohn, mein heiliger Sohn! Ich sterbe. Ich halte diese Trostlosigkeit nicht aus. Zeige mir wieder dein Antlitz. Rufe mich noch einmal. Ich kann mir dich nicht vorstellen ohne Stimme und ohne Blick, eine kalte, leblose Hülle! Oh, Vater, komm du mir zu Hilfe! Jesus, hörst du mich nicht! Ist denn die Passion nicht zu Ende? Ist denn nicht alles vollbracht? Genügen denn diese Nägel, diese Dornen, dieses Blut, diese Tränen nicht? Braucht es noch mehr, um das Menschengeschlecht zu heilen.

Vater, ich nenne dir die Werkzeuge seiner Schmerzen und meine Tränen. Aber das ist das wenigste. Was ihm bei seinem Sterben einen übermenschlichen Schmerz bereitet hat, war das Verlassensein von dir. Und was mich schreien macht, ist, dass ich mich von dir verlassen fühle. Ich fühle deine Nähe nicht mehr. Wo bist du, heiliger Vater? Ich war die „Gnadenvolle“. Der Engel hat gesagt: „Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen.“ Nein. Nein, dass ist nicht wahr! Ich bin wie eine von dir wegen ihrer Sünden Verfluchte. Du bist nicht mehr mit mir. Die Gnade hat sich zurückgezogen, als ob ich eine zweite sündige Eva wäre.

Aber ich bin dir immer treu gewesen. Worin habe ich dir mißfallen? Du konntest mit mir machen, was du wolltest, und ich habe immer gesagt: „Ja, Vater, ich bin bereit.“ Können denn die Engel lügen? Und Anna, die mir versichert hatte, dass du mir in der Stunde des Leidens einen Engel senden würdest? Ich bin allein. Ich finde keine Gnade mehr in deinen Augen. Ich habe dich, die Gnade, nicht mehr in mir. Ich habe keinen Engel mehr. Lügen also die Heiligen? Worin habe ich dir mißfallen, wenn sie lügen und ich diese Stunde verdient habe?

Und Jesus? Worin hat dein reines, sanftmütiges Lamm gefehlt? Womit haben wir dich beleidigt, dass wir, außer dem von den Menschen zugefügten Martyrium, auch noch die unbeschreibliche Qual deiner Abkehr von uns ertragen müssen? Ihn, ihn, der dein Sohn war und dich mit einer Stimme rief, die die Erde erschauern machte und sie in mitleidigem Aufschluchzen erbeben ließ, wie konntest du ihn in seiner großen Qual verlassen?

Armes Herz Jesu, dass dich so sehr geliebt hat! Wo ist das Zeichen der Herzwunde? Hier ist es. Sieh, Vater, dieses Zeichen. Hier ist der Abdruck meiner Hand, die in die Wunde der Lanze eingedrungen ist. Hier, hier... Weder die Tränen noch der Kuß der Mutter, deren Augen brennen vom Weinen und deren Lippen wund sind vom Küssen, löschen es. Dieses Zeichen schreit und klagt an. Dieses Zeichen schreit lauter als das Blut Abels von der Erde zu dir. Und du, der du Kain verflucht und dich an ihm gerächt hast, du bist meinem von seinen Kainen schon so sehr verletzten Abel nicht zu Hilfe gekommen und hast ihnen sogar das letzte Verbrechen erlaubt! Du hast ihm das Herz zerrissen durch deine Abkehr und hast zugelassen, dass ein Mensch es freilegt, damit ich es sehe und auch durch seinen Anblick zermalmt werde. Aber nicht meinetwegen, sondern seinetwegen, seinetwegen rufe ich dich und bitte dich um eine Antwort. Du hättest es nicht tun dürfen...

Du hättest es nicht tun dürfen... Oh, Verzeihung, Vater! Verzeihung, heiliger Vater! Verzeih einer Mutter, die ihr Kind beweint... Er ist tot! Mein Sohn ist tot! Mit durchbohrtem Herzen gestorben... Oh, Vater, Vater, Erbarmen! Ich liebe dich! Wir haben dich geliebt, und du hast uns so sehr geliebt. Wie konntest du zulassen, dass das Herz unseres Sohnes durchbohrt wurde? Oh, Vater! ... Habe Mitleid mit einer armen Frau. Ich bin von Sinnen, Vater! Ich gehöre dir, ich bin dein Nichts, und ich wage es, dich zu tadeln! Barmherzigkeit! Du bist gut gewesen. Die Wunde, die einzige Wunde, die ihn nicht geschmerzt hat, ist diese.

Deine Abkehr hat ihn noch vor Sonnenuntergang sterben lassen und ihm so weitere Qualen erspart. Du bist gut gewesen. Alles tust du aus Güte und Liebe. Wir sind Geschöpfe, die nichts verstehen. Du bist gut gewesen. Gut bist du gewesen. Sprich diese Worte, meine Seele, um meinem Leiden den Stachel zu nehmen. Gott ist gut und hat dich immer geliebt, meine Seele. Von der Wiege bis zum heutigen Tag hat er dich immer geliebt. Er hat dir alle Freuden des irdischen Lebens geschenkt. Er hat dir sich selbst geschenkt. Er ist gut gewesen, gut, gut. Danke, Herr. Sei gepriesen für deine unendliche Güte.

Danke, Jesus. Ich danke auch dir. Ich allein habe sie in meinem Herzen gefühlt, als ich dein geöffnetes Herz gesehen habe. Nun ist deine Lanze in meinem Herzen und bohrt und wühlt. Doch es ist besser so. Du spürst sie nicht.

Aber, habe Erbarmen, Jesus. Gib ein Zeichen! Eine Liebkosung, ein Wort für deine arme Mutter mit dem verwundeten Herzen! Ein Zeichen, ein Zeichen, Jesus, wenn du mich bei deiner Rückkehr noch lebend antreffen willst.»

Ein energisches Klopfen an der Tür läßt alle aufschrecken. Der tapfere Hausherr flieht. Maria des Zebedäus möchte, dass ihr Johannes ihm folgt und schiebt ihn in Richtung Hof. Die anderen, außer Maria Magdalena, drängen sich zusammen und jammern. Maria Magdalena geht aufrecht und mutig zur Tür und fragt: «Wer klopft?»

Eine Frauenstimme antwortet: «Ich bin Nike. Ich muss der Mutter etwas bringen. Öffnet schnell, die Militärstreife ist unterwegs.»

Johannes, der sich von seiner Mutter losgerissen hat und zu Magdalena geeilt ist, macht sich an den vielen Riegeln zu schaffen, die heute abend alle sorgfältig vorgeschoben sind. Er öffnet, und Nike kommt mit einer Dienerin und einem kräftigen Begleiter herein. Die Tür wird wieder geschlossen.

«Ich habe etwas», sagt Nike weinend, und die Stimme versagt ihr...

«Was? Was?» Alle drängen sich neugierig heran.

«Auf dem Kalvarienberg... Ich habe den Erlöser in diesem Zustand gesehen... Ich hatte den Schleier für die Lenden vorbereitet, damit er die Lappen der Henker nicht braucht... Aber er war so verschwitzt, mit Blut in den Augen, dass ich ihm den Schleier geben wollte, damit er sich abtrocknen konnte. Und er hat es getan ... und mir den Schleier zurückgegeben. Ich habe ihn nicht mehr benützt ... Ich wollte ihn mit seinem Schweiß und seinem Blut als Reliquie aufbewahren. Und als wir kurz darauf die Gehässigkeit der Juden gegen Plautina und die anderen Römerinnen, Lydia und Valeria, sahen, beschlossen wir, zurückzukehren, aus Furcht, dass man uns dieses Tuch wegnehmen könnte. Die Römerinnen sind tapfere Frauen. Sie haben uns in ihre Mitte genommen, mich und die Dienerin, und haben uns beschützt. Obwohl sie eine Verunreinigung für Israel darstellen... und es gefährlich ist, Plautina zu berühren. Aber daran denkt man in ruhigen Zeiten. Heute waren alle in einem Rausch... Zu Hause habe ich geweint... stundenlang... Dann ist das Erdbeben gekommen, und ich bin ohnmächtig geworden... Als ich wieder zu mir kam, wollte ich den Schleier küssen und habe gesehen... Oh! ... Das Antlitz des Erlösers ist darauf! ...»

«Laß sehen! Laß sehen!»

«Nein, zuerst die Mutter! Es ist ihr Recht!»

«Sie ist völlig am Ende! Sie wird es nicht ertragen ...»

«Oh, sagt das nicht. Es wird ihr im Gegenteil ein Trost sein. Benachrichtigt sie!»

Johannes klopft leise an die Tür.

«Wer ist da?»

«Ich, Mutter. Nike ist draußen... Sie ist bei Nacht gekommen... Sie hat dir ein Andenken... ein Geschenk gebracht. Sie hofft, dass es dir ein Trost sein wird.»

«Oh, ein einziges Geschenk könnte mich trösten: das Lächeln seines Gesichtes ...»

«Mutter!» Johannes umarmt sie, aus Furcht, dass sie fallen könnte, und sagt, als würde er ihr den wahren Namen Gottes anvertrauen: «Das ist es. Sein Lächeln ist auf dem Tuch, mit dem Nike auf dem Kalvarienberg sein Antlitz getrocknet hat.»

«Oh, Vater! Allmächtiger Gott! Heiliger Sohn! Ewige Liebe! Seid gepriesen! Das Zeichen! Das Zeichen, um das ich euch gebeten habe! Laß sie, laß sie eintreten!»

Maria muss sich setzen, denn sie kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, und während Johannes den Frauen ein Zeichen gibt, Nike hereinzuschicken, beruhigt sich die Jungfrau wieder.

Nike kommt herein und kniet mit ihrer Dienerin vor Maria nieder. Johannes steht neben Maria und legt einen Arm um ihre Schultern, wie um sie zu stützen. Nike sagt kein Wort. Sie öffnet das Kästchen, nimmt das Tuch heraus und faltet es auseinander. Und das Antlitz Jesu, dass lebendige Antlitz Jesu, dass schmerzerfüllte und doch lächelnde Antlitz Jesu sieht die Mutter an und lächelt ihr zu.

Maria schreit in schmerzlicher Liebe auf und streckt die Arme aus. Ein Echo ertönt aus dem Vorraum, wo sich die Frauen an der Tür versammelt haben. Und alle knien wie die Mutter vor dem Antlitz des Erlösers nieder.

Nike findet keine Worte. Sie läßt das Tuch aus ihren Händen in die Hände der Mutter gleiten und neigt sich dann, um seinen Saum zu küssen. Schließlich geht sie rückwärts aus dem Raum, ohne abzuwarten, dass Maria aus ihrer Ekstase erwacht.

Sie geht in die Nacht hinaus und ist schon verschwunden, bevor die anderen dessen gewahr werden. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das Tor wie zuvor zu schließen.

Maria ist wieder allein, in ein Gespräch der Seele mit dem Bild ihres Sohnes vertieft, denn die anderen haben sich alle zurückgezogen.

Einige Zeit vergeht. Dann sagt Martha: «Wie machen wir es mit den Salben? Morgen ist Sabbat ...»

«Und wir werden nichts kaufen können...» sagt Salome.

«Und doch muss es getan werden. Viele Pfund Aloe und Myrrhe... Aber er war so schlecht gewaschen...»

«Auf jeden Fall muss alles bereit sein bei Sonnenaufgang des ersten Tages nach dem Sabbat», bemerkt Maria des Alphäus.

«Und die Wachen? Wie werden wir es anstellen?» fragt Susanna.

«Wir werden es Joseph sagen, wenn sie uns nicht hineinlassen», antwortet Martha.

«Wir können den Stein nicht allein wegrücken.»

Maria Magdalena sagt: «Oh, du meinst, zu fünft können wir das nicht? Wir sind alle kräftig... und die Liebe tut das übrige.»

«Und auch ich werde mit euch gehen», sagt Johannes.

«Du auf keinen Fall. Ich will nicht auch noch dich verlieren, Sohn.»

«Mache dir keine Sorgen. Wir genügen.»

«Nun gut... aber wer gibt euch die Salben?»

Alle sind niedergeschlagen... Dann sagt Martha: «Wir hätten Nike fragen können, ob es wahr ist, was wir über Johanna und von den Unruhen gehört haben...»

«Das ist wahr! Aber wir sind töricht. Wir hätten auch die Salben holen können. Isaak war auf der Schwelle, als wir zurückkamen ...»

«Im Palast sind viele Gefäße mit Essenzen, und auch feinen Weihrauch haben wir dort. Ich werde sie holen.» Maria Magdalena steht von ihrem Platz auf und legt ihren Mantel um.

Martha schreit: «Du gehst nicht!»

«Ich gehe!»

«Du bist von Sinnen! Sie werden dich gefangennehmen!»

«Deine Schwester hat recht. Geh nicht!»

«Oh, was seid ihr für unnütze, heulende Frauenzimmer! Jesus hatte wahrhaftig eine schöne Schar von Anhängern. Ist euer Vorrat an Mut schon erschöpft? Bei mir ist es umgekehrt. Je mehr ich davon verbrauche, desto größer wird er.»

«Dann werde ich mit ihr gehen. Ich bin ein Mann.“

«Und ich bin deine Mutter und verbiete es dir!»

«Beruhige dich, Maria Salome. Und du sei brav, Johannes. Ich gehe allein. Ich habe keine Angst. Ich weiß, was es heißt, bei Nacht auf den Straßen zu sein. Ich war der Sünde wegen tausendmal unterwegs... Und nun sollte ich Angst haben, da ich gehe, um dem Sohn Gottes zu dienen?»

«Aber heute ist es unruhig in der Stadt. Du hast den Mann gehört.»

«Der ist ein Angsthase. Und ihr ebenfalls. Ich gehe.»

«Und wenn dich die Soldaten sehen?»

«Dann werde ich sagen: „Ich bin die Tochter von Theophilus dem Syrer, dem treuen Diener Caesars.“ Und sie werden mich laufen lassen. Und außerdem... ein Mann ist für eine junge, schöne Frau ein geringeres Hindernis als ein Strohhalm. Ich weiß es, zu meiner Schande ...»

«Aber wo willst du im Palast Salben finden, da er doch seit Jahren unbewohnt ist?»

«Glaubst du das? Oh, Martha! Hast du vergessen, dass Israel euch gezwungen hat, ihn zu verlassen, weil er einer der Orte war, an denen ich meine Liebhaber traf? In dem Palast war alles, was ich brauchte, um den Männern noch mehr die Köpfe zu verdrehen. Als ich durch meinen Erlöser gerettet wurde, habe ich die Alabastergefäße und den Weihrauch, die ich für meine Liebesorgien gebraucht hatte, an einem nur mir bekannten Ort versteckt. Und ich habe geschworen, dass nur die Tränen über meine Sünden und die Anbetung des allerheiligsten Jesus die Essenzen und der Weihrauch der büßenden Maria sein würden, und dass ich diese Zeichen des Dienstes der Sinne und des Fleisches nur verwenden würde, um sie zu heiligen und ihn zu salben. Nun ist die Zeit dazu gekommen. Ich gehe. Bleibt. Und seid ruhig. Der Engel Gottes begleitet mich, und es wird mir nichts Böses zustoßen. Lebt wohl. Ich werde euch Nachrichten bringen. Doch Maria solltet ihr nichts sagen... Sie würde sich nur noch größere Sorgen machen...»

Und Maria von Magdala geht mit beeindruckender Selbstsicherheit fort.

«Mutter, laß dir das eine Lehre sein... Es möge dir sagen: Handle nicht so, dass die Welt deinen Sohn einen Feigling nennt. Morgen, nein heute, denn es ist bereits die zweite Nachtwache, werde ich gehen und die Gefährten suchen, wie sie es wünscht...»

«Es ist Sabbat... Du kannst nicht gehen...» entgegnet Salome, um ihn zurückzuhalten.

«„Der Sabbat ist tot“, sage auch ich mit Joseph. Die neue Zeit hat begonnen. Andere Gesetze, andere Opfer und andere Zeremonien wird es in ihr geben.»

Maria Salome neigt das Haupt auf die Knie und weint, ohne weiter zu widersprechen.

«Oh, könnten wir doch etwas über Lazarus erfahren!» jammert Maria des Kleophas.

«Wenn ihr mich gehen laßt, werdet ihr etwas erfahren. Denn die Gefährten wurden zu Lazarus gebracht von Simon dem Kananiter, der den Auftrag dazu erhalten hatte. Jesus hat es Simon in meiner Gegenwart gesagt.»

«0 weh! Alle dort? Dann sind sie alle verloren!» Maria des Kleophas und Salome weinen untröstlich.

Die Zeit vergeht. Man wartet, und viele Tränen werden vergossen. Dann kehrt Maria Magdalena triumphierend und mit Taschen beladen zurück, die kostbare Gefäße enthalten.

«Seht ihr, dass nichts passiert ist? Hier: Öle aller Art, und Narden, Lavendel und Benzoeharz. Myrrhe und Aloe sind nicht dabei... Ich wollte nichts Bitteres... Bitterkeit verkoste ich jeden Augenblick... Wir werden vorerst dies verwenden, und morgen holen wir... Oh, Isaak wird für Geld auch am Sabbat verkaufen... Bei ihm kaufen wir dann Myrrhe und Aloe.»

«Hat man dich gesehen?» «Niemand. Nicht einmal eine Fledermaus ist unterwegs.»«Und die Soldaten?»«Die Soldaten? Ich denke, die schnarchen in ihren Betten.» «Aber der Aufruhr... die Verhaftungen ...»«Die hat nur die Angst dieses Mannes gesehen ...»«Wer ist im Palast?»

«Nun, Levi und seine Frau. Unbesorgt wie Kinder. Die Bewaffneten sind geflohen. Ha, ha, schöne Helden haben wir, dass muss ich schon sagen... Sie sind geflohen, als sie von der Verurteilung gehört haben. Es ist wahr, Rom ist streng und gebraucht die Peitsche... Aber dadurch erreicht es, dass man es fürchtet und ihm dient. Und Rom hat Männer, keine Hasen... O ja, er hat gesagt: „Meine Jünger werden dasselbe Schicksal wie ich erleiden.“ Wenn viele Römer Jesus nachfolgen, dann ist das schon möglich. Aber wenn es Märtyrer unter den Israeliten braucht, wird er allein bleiben... Hier, dass ist meine Tasche. Und die ist von Johanna, die... Ja, nicht nur feige, sondern Lügner sind wir. Johanna ist nur sehr niedergeschlagen. Sie und Elisa haben sich auf Golgotha übel gefühlt. Die eine ist eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, und so wurde ihr übel, als sie Jesus röcheln hörte. Die andere ist zart und so lange Wege unter der Sonne nicht gewohnt. Aber keine ist verletzt oder liegt im Sterben. Johanna weint wie wir alle, gewiss; aber mehr nicht. Sie bedauert, dass man sie weggebracht hat. Morgen wird sie zu uns kommen. Sie schickt diese Aromen, alle, die sie im Haus hatte. Valeria ist auf Anordnung von Plautina bei ihr geblieben, und nun ist sie mit den Sklaven zum Haus Claudias gegangen, denn dort haben sie viel Weihrauch. Wenn sie kommt – denn auch sie ist, dem Himmel sei Dank, kein immer zitternder Angsthase – dann schreit nicht alle, als ob man euch ein Messer an die Kehle setzen würde. Los, steht auf. Holen wir die Mörser. Arbeiten wir. Weinen nützt nichts. Oder arbeitet wenigstens, während ihr weint. Unser Balsam soll mit unseren Tränen vermischt sein. Er wird es fühlen ... Er wird unsere Liebe spüren.» Sie beißt sich auf die Lippen, um nicht selbst zu weinen und den anderen, die so sehr betrübt sind, Mut einzuflößen.

Sie arbeiten eifrig.

Maria ruft Johannes.

«Mutter, was möchtest du?»

«Diese Schläge...»

«Sie zerstoßen den Weihrauch.»

«Ach... Aber... Verzeiht mir... Macht nicht so ein Geräusch... Es erinnert mich an die Hämmer ...»

Die Bronzestößel, die auf den Marmor der Mörser schlagen, klingen tatsächlich wie Hämmer.

Johannes sagt es den Frauen, und diese gehen in den Hof hinaus, um weniger gehört zu werden.

Johannes kehrt zur Mutter zurück.

«Wo haben sie das bekommen?»

«Maria des Lazarus ist in ihr Haus und zu Johanna gegangen... Man wird noch mehr bringen...»

«Ist niemand gekommen?»

«Außer Nike niemand.»

«Sieh ihn an, Johannes, wie schön er auch in seinem Schmerz ist.» Maria verliert sich mit gefalteten Händen in der Betrachtung des Schleiers, den sie über eine Truhe gehängt und mit Gewichten befestigt hat.

«Ja, Mutter, schön. Und er lächelt dir zu... Nun weine nicht mehr... Es sind schon einige Stunden vergangen, und wir müssen nicht mehr so lange auf seine Rückkehr warten...» und Johannes weint.

Maria streichelt seine Wange, ohne die Augen von dem Bildnis ihres Sohnes abzuwenden. Johannes geht mit tränenverschleiertem Blick hinaus.

Auch Magdalena, die zurückgekommen ist, um Amphoren zu holen, ist in derselben Verfassung. Aber sie sagt dem Apostel: «Es ist nicht gut, dass sie uns weinen sehen. Sonst tun die dort nichts anderes mehr. Und wir müssen etwas tun ...»

«... und wir müssen glauben», fügt Johannes hinzu.

«Ja, glauben. Wenn man nicht glauben könnte, würde man verzweifeln. Ich glaube. Und du?»

«Ich auch ...»

«Du scheinst nicht sehr überzeugt. Du liebst noch nicht genug. Wenn du mit deinem ganzen Sein lieben würdest, könntest du nicht anders als glauben. Die Liebe ist Licht und Stimme. Auch gegen das Dunkel der Ablehnung und das Schweigen des Todes sagt sie: „Ich glaube.“»

Herrlich ist diese Magdalena bei ihrem Glaubensbekenntnis, eine hohe, eindrucksvolle, gebieterische Gestalt! Sie muss ein wundes Herz haben.

Ihre vom Weinen brennenden Augen verraten es. Doch die Seele ist unbezwingbar.

Johannes betrachtet sie voller Bewunderung und murmelt: «Du bist stark!»

«Immer. Ich war es so sehr, dass ich die Welt herausgefordert habe. Und damals war ich ohne Gott. Nun, da ich Gott besitze, fühle ich, dass ich selbst der Hölle trotzen würde. Du, der du gut bist, müßtest viel stärker sein als ich. Denn die Sünde schwächt, weißt du? Mehr als die Schwindsucht. Aber du bist unschuldig... Daher hat er dich so sehr geliebt...»

«Auch dich hat er geliebt...»

«Und ich war nicht unschuldig. Aber ich war seine Eroberung und ...»

Jemand klopft kräftig an die Tür.

«Es wird Valeria sein. Mach auf.»

Johannes öffnet ohne Furcht, da die Ruhe Marias sich auf ihn überträgt.

Es ist tatsächlich Valeria mit ihren Sklaven, die die Sänfte tragen, aus der sie gerade gestiegen ist. Sie tritt ein mit dem römischen Gruß: «Salve.»

«Der Friede sei mit dir, Schwester. Tritt ein», sagt Johannes.

«Kann ich der Mutter das Geschenk Plautinas bringen? Auch Claudia hat beigesteuert. Aber nur, wenn es ihr nicht unangenehm ist, mich zu sehen.»

Johannes geht zu Maria.

«Wer hat geklopft? Petrus? Judas? Joseph?»

«Nein, es ist Valeria. Sie hat kostbare Harze gebracht. Sie möchte sie dir übergeben... wenn es dir nicht unangenehm ist.»

«Ich muss meine Abneigung überwinden. Er hat zu seinem Reich die Kinder Israels und die Heiden berufen. Er hat alle berufen. Nun... ist er tot... Aber ich bin an seiner Stelle hier. Und ich empfange alle. Sie soll hereinkommen.»

Valeria tritt ein. Sie hat den dunklen Mantel abgelegt und ist nun ganz in Weiß in ihrer Stola. Sie verneigt sich tief, grüßt und sagt: «Domina, du weißt, wer wir sind. Die ersten aus der Finsternis des Heidentums Erlösten. Finsternis und Schmutz waren wir. Dein Sohn hat uns Flügel und Licht gegeben. Nun ist er... in Frieden entschlafen. Wir kennen eure Bräuche und wollen, dass auch die Salben Roms über den Sieger ausgegossen werden.»

«Gott segne euch, Töchter meines Herrn. Und... verzeiht, wenn ich nicht mehr sagen kann ...»

«Bemühe dich nicht, Domina. Rom ist stark. Aber es versteht auch den Schmerz und die Liebe. Es versteht dich, Mater Dolorosa. Leb wohl.»

«Der Friede sei mit dir, Valeria. Plautina und euch allen meinen Segen.»

Valeria zieht sich zurück, nachdem sie den Weihrauch und die Essenzen vor Maria gestellt hat.

«Siehst du, Mutter? Die ganze Welt gibt etwas für den König des Himmels und der Erde.»

«Ja», sagt Maria, «die ganze Welt. Und die Mutter wird ihm nur Tränen gegeben haben.»

Ein Hahn kräht fröhlich irgendwo in der Nähe, und Johannes zuckt zusammen.

«Was hast du, Johannes?» fragt die Jungfrau.

«Ich muss an Simon Petrus denken ...»

«Aber ist er nicht mit dir zusammengewesen?» fragt Magdalena, die wieder ins Zimmer gekommen ist.

«Ja, im Haus des Annas. Dann habe ich verstanden, dass ich hierher kommen musste. Und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.»

«Es wird bald Morgen.»

«Ja, öffnet die Fenster.»

Sie öffnen die Läden, und die Gesichter erscheinen im grünlichen Morgenlicht noch fahler.

Die Nacht des Karfreitags ist zu Ende...